Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

Bild:
<< vorherige Seite

die Reformation, Luther und den Protestantismus bekämpfen,
geschieht es, weil wir in ihnen die Hauptbollwerke einer
nationalen Isolation erblicken, die fallen muss, soll die
einige Menschheit erstehen. Wir glauben auch nicht, dass
es notwendig ist, "der europäischen Entartung Heilmittel
aus der Welt der Upanishads und des Buddha" 12) zuzuführen.
Das würde, wie die Dinge in Deutschland heute beschaffen
sind, nur die Gelehrsamkeit mehren, die Energie aber
schwächen. Gedacht und geschrieben ist längst genug. Wir
brauchen nur die Essenz zu ziehen aus dem Vorhandenen;
denn es gilt von den Deutschen noch heute, was Bakunin
1840 über sie aus Berlin an Herzen schrieb: "wäre der
zehnte Teil ihres reichen geistigen Bewusstseins ins Leben
übergangen, so wären sie herrliche Leute" 13).

Graben wir unsere Bibliotheken aus! Verbrennen wir
alles Ueberflüssige, statt neue "Heilmittel" zu suchen! Ein
neuer Gewissensstrom komme über Deutschland. Wieder-
erwägung nicht nur politischer Fragen, sondern auch der
Leistungen und Entscheidungen deutscher Geistesheroen,
gemessen an den Forderungen des heutigen Europa.

4.

Man hat Luther den ersten grossen Durchbrecher des
mittelalterlichen Systems genannt, und gewiss mit Recht,
wenn man damit das religiöse System meinte. Die 95 Thesen,
die Luther an die Schlosskirche zu Wittenberg nagelte,
handelten von der "freien Gnade", und der Ablassstreit, der
daraus entstand, entwickelte sich rapid zum Kampf um das
Recht des Papstes. "Wenn die Gnade Gottes frei wirkte", sagt
Naumann 14), "hörte alle Zentralverwaltung der Heiligtümer
auf". Und sie hörte in der Tat auf. Freie Gnade hiess
freies Gewissen, hiess über Seligkeit, Recht und Unrecht, Dies-
seits und Jenseits, von nun an selbständig denken zu dürfen.
Freiheit eines Christenmenschen: das bedeutete, dass das

die Reformation, Luther und den Protestantismus bekämpfen,
geschieht es, weil wir in ihnen die Hauptbollwerke einer
nationalen Isolation erblicken, die fallen muss, soll die
einige Menschheit erstehen. Wir glauben auch nicht, dass
es notwendig ist, „der europäischen Entartung Heilmittel
aus der Welt der Upanishads und des Buddha“ 12) zuzuführen.
Das würde, wie die Dinge in Deutschland heute beschaffen
sind, nur die Gelehrsamkeit mehren, die Energie aber
schwächen. Gedacht und geschrieben ist längst genug. Wir
brauchen nur die Essenz zu ziehen aus dem Vorhandenen;
denn es gilt von den Deutschen noch heute, was Bakunin
1840 über sie aus Berlin an Herzen schrieb: „wäre der
zehnte Teil ihres reichen geistigen Bewusstseins ins Leben
übergangen, so wären sie herrliche Leute“ 13).

Graben wir unsere Bibliotheken aus! Verbrennen wir
alles Ueberflüssige, statt neue „Heilmittel“ zu suchen! Ein
neuer Gewissensstrom komme über Deutschland. Wieder-
erwägung nicht nur politischer Fragen, sondern auch der
Leistungen und Entscheidungen deutscher Geistesheroen,
gemessen an den Forderungen des heutigen Europa.

4.

Man hat Luther den ersten grossen Durchbrecher des
mittelalterlichen Systems genannt, und gewiss mit Recht,
wenn man damit das religiöse System meinte. Die 95 Thesen,
die Luther an die Schlosskirche zu Wittenberg nagelte,
handelten von der „freien Gnade“, und der Ablassstreit, der
daraus entstand, entwickelte sich rapid zum Kampf um das
Recht des Papstes. „Wenn die Gnade Gottes frei wirkte“, sagt
Naumann 14), „hörte alle Zentralverwaltung der Heiligtümer
auf“. Und sie hörte in der Tat auf. Freie Gnade hiess
freies Gewissen, hiess über Seligkeit, Recht und Unrecht, Dies-
seits und Jenseits, von nun an selbständig denken zu dürfen.
Freiheit eines Christenmenschen: das bedeutete, dass das

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0029" n="21"/>
die Reformation, Luther und den Protestantismus bekämpfen,<lb/>
geschieht es, weil wir in ihnen die Hauptbollwerke einer<lb/>
nationalen Isolation erblicken, die fallen muss, soll die<lb/>
einige Menschheit erstehen. Wir glauben auch nicht, dass<lb/>
es notwendig ist, &#x201E;der europäischen Entartung Heilmittel<lb/>
aus der Welt der Upanishads und des Buddha&#x201C; <note xml:id="id12a" next="id12a12a" place="end" n="12)"/> zuzuführen.<lb/>
Das würde, wie die Dinge in Deutschland heute beschaffen<lb/>
sind, nur die Gelehrsamkeit mehren, die Energie aber<lb/>
schwächen. Gedacht und geschrieben ist längst genug. Wir<lb/>
brauchen nur die Essenz zu ziehen aus dem Vorhandenen;<lb/>
denn es gilt von den Deutschen noch heute, was Bakunin<lb/>
1840 über sie aus Berlin an Herzen schrieb: &#x201E;wäre der<lb/>
zehnte Teil ihres reichen geistigen Bewusstseins ins Leben<lb/>
übergangen, so wären sie herrliche Leute&#x201C; <note xml:id="id13a" next="id13a13a" place="end" n="13)"/>.</p><lb/>
          <p>Graben wir unsere Bibliotheken aus! Verbrennen wir<lb/>
alles Ueberflüssige, statt neue &#x201E;Heilmittel&#x201C; zu suchen! Ein<lb/>
neuer Gewissensstrom komme über Deutschland. Wieder-<lb/>
erwägung nicht nur politischer Fragen, sondern auch der<lb/>
Leistungen und Entscheidungen deutscher Geistesheroen,<lb/>
gemessen an den Forderungen des heutigen Europa.</p><lb/>
        </div>
        <div n="2">
          <head>4.</head><lb/>
          <p>Man hat Luther den ersten grossen Durchbrecher des<lb/>
mittelalterlichen Systems genannt, und gewiss mit Recht,<lb/>
wenn man damit das religiöse System meinte. Die 95 Thesen,<lb/>
die Luther an die Schlosskirche zu Wittenberg nagelte,<lb/>
handelten von der &#x201E;freien Gnade&#x201C;, und der Ablassstreit, der<lb/>
daraus entstand, entwickelte sich rapid zum Kampf um das<lb/>
Recht des Papstes. &#x201E;Wenn die Gnade Gottes frei wirkte&#x201C;, sagt<lb/>
Naumann <note xml:id="id14a" next="id14a14a" place="end" n="14)"/>, &#x201E;hörte alle Zentralverwaltung der Heiligtümer<lb/>
auf&#x201C;. Und sie hörte in der Tat auf. Freie Gnade hiess<lb/>
freies Gewissen, hiess über Seligkeit, Recht und Unrecht, Dies-<lb/>
seits und Jenseits, von nun an selbständig denken zu dürfen.<lb/>
Freiheit eines Christenmenschen: das bedeutete, dass das<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[21/0029] die Reformation, Luther und den Protestantismus bekämpfen, geschieht es, weil wir in ihnen die Hauptbollwerke einer nationalen Isolation erblicken, die fallen muss, soll die einige Menschheit erstehen. Wir glauben auch nicht, dass es notwendig ist, „der europäischen Entartung Heilmittel aus der Welt der Upanishads und des Buddha“ ¹²⁾ zuzuführen. Das würde, wie die Dinge in Deutschland heute beschaffen sind, nur die Gelehrsamkeit mehren, die Energie aber schwächen. Gedacht und geschrieben ist längst genug. Wir brauchen nur die Essenz zu ziehen aus dem Vorhandenen; denn es gilt von den Deutschen noch heute, was Bakunin 1840 über sie aus Berlin an Herzen schrieb: „wäre der zehnte Teil ihres reichen geistigen Bewusstseins ins Leben übergangen, so wären sie herrliche Leute“ ¹³⁾ . Graben wir unsere Bibliotheken aus! Verbrennen wir alles Ueberflüssige, statt neue „Heilmittel“ zu suchen! Ein neuer Gewissensstrom komme über Deutschland. Wieder- erwägung nicht nur politischer Fragen, sondern auch der Leistungen und Entscheidungen deutscher Geistesheroen, gemessen an den Forderungen des heutigen Europa. 4. Man hat Luther den ersten grossen Durchbrecher des mittelalterlichen Systems genannt, und gewiss mit Recht, wenn man damit das religiöse System meinte. Die 95 Thesen, die Luther an die Schlosskirche zu Wittenberg nagelte, handelten von der „freien Gnade“, und der Ablassstreit, der daraus entstand, entwickelte sich rapid zum Kampf um das Recht des Papstes. „Wenn die Gnade Gottes frei wirkte“, sagt Naumann ¹⁴⁾ , „hörte alle Zentralverwaltung der Heiligtümer auf“. Und sie hörte in der Tat auf. Freie Gnade hiess freies Gewissen, hiess über Seligkeit, Recht und Unrecht, Dies- seits und Jenseits, von nun an selbständig denken zu dürfen. Freiheit eines Christenmenschen: das bedeutete, dass das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Schulz, Dienstleister (Muttersprachler): Bereitstellung der Texttranskription nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-02-17T09:20:45Z)
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiebibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-02-17T09:20:45Z)

Weitere Informationen:

  • Nach den Richtlinien des Deutschen Textarchivs (DTA) transkribiert und ausgezeichnet.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/29
Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/29>, abgerufen am 29.03.2024.