Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

Bild:
<< vorherige Seite

die Qual zu vermehren, statt sie zu beheben? Satanische
Kräfte sind dort am Werk, wo die natürlichen Fesseln des
Menschen durch äussere Auflegung noch vervielfacht werden.
Satanische Kräfte dort, wo die Qual, mit der jeder geboren
wird, durch das Dasein verdoppelt wird, statt erleichtert zu
werden. Die Pseudologie von Gesetz und von Dogma,
Erfindung von Herrschern und Theologen, hat sich geeinigt,
satanisch zu nennen, was ihrer Usurpation widerspricht. Das
Leben hat keinen andern Sinn als die Freiheit. Die äussere
Freiheit ist nur die logische Konsequenz der inneren; beide
zusammen aber sind unerlässlich, weil sie allein jene nach
Goethe wesentlichste Bedingung der Unsterblichkeit erfüllen,
"dass der ganze Mensch aus sich heraustrete ans Licht".
Moral ist Libertinage, gefesselt durch Armut und Mitleid.

In einer finsteren Zeit die Vernunft einsam am Werke
zu sehen, gewährt ein tröstliches Schauspiel. Von 1523 an
trat Münzer systematisch hervor. Seit 1524 richtete er
heftige Angriffe gegen Luther. Den "wittenbergischen Papst",
der seine politische Indulgenz religiös maskierte, hielt er für
bei weitem gefährlicher als den römischen. Im Frühjahr
1524 richtete er einen Brief an Melanchthon des Inhalts,
Melanchthon und Luther missverstünden die werdende neue
Kirche durch ihren Buchstabendienst 52): "Ihr zarten Schrift-
gelehrten, seid nicht unwillig, ich kann es nicht anders
machen". Er erkauft sich von ihrem Hasse die Freiheit,
handeln zu dürfen; er spricht von "den grossen Hansen,
die Gott also lächerlich zum gemalten Männlein gemacht
haben". Sein Stil wird agitatorisch und emotionell. Die
hellen Posaunen will er "mit einem neuen Klang füllen".
"Die ganze Welt muss einen grossen Stoss aushalten; es
wird ein solch Spiel angehen, dass die Gottlosen vom
Stuhl gestürzt, die Niedrigen aber erhöhet werden" 53). "Man
muss gar mächtig Achtung haben auf die neue Bewegung
der jetzigen Welt. Die alten Anschläge werden es ganz
und gar nicht mehr tun, denn es ist eitel Schaum, wie

die Qual zu vermehren, statt sie zu beheben? Satanische
Kräfte sind dort am Werk, wo die natürlichen Fesseln des
Menschen durch äussere Auflegung noch vervielfacht werden.
Satanische Kräfte dort, wo die Qual, mit der jeder geboren
wird, durch das Dasein verdoppelt wird, statt erleichtert zu
werden. Die Pseudologie von Gesetz und von Dogma,
Erfindung von Herrschern und Theologen, hat sich geeinigt,
satanisch zu nennen, was ihrer Usurpation widerspricht. Das
Leben hat keinen andern Sinn als die Freiheit. Die äussere
Freiheit ist nur die logische Konsequenz der inneren; beide
zusammen aber sind unerlässlich, weil sie allein jene nach
Goethe wesentlichste Bedingung der Unsterblichkeit erfüllen,
„dass der ganze Mensch aus sich heraustrete ans Licht“.
Moral ist Libertinage, gefesselt durch Armut und Mitleid.

In einer finsteren Zeit die Vernunft einsam am Werke
zu sehen, gewährt ein tröstliches Schauspiel. Von 1523 an
trat Münzer systematisch hervor. Seit 1524 richtete er
heftige Angriffe gegen Luther. Den „wittenbergischen Papst“,
der seine politische Indulgenz religiös maskierte, hielt er für
bei weitem gefährlicher als den römischen. Im Frühjahr
1524 richtete er einen Brief an Melanchthon des Inhalts,
Melanchthon und Luther missverstünden die werdende neue
Kirche durch ihren Buchstabendienst 52): „Ihr zarten Schrift-
gelehrten, seid nicht unwillig, ich kann es nicht anders
machen“. Er erkauft sich von ihrem Hasse die Freiheit,
handeln zu dürfen; er spricht von „den grossen Hansen,
die Gott also lächerlich zum gemalten Männlein gemacht
haben“. Sein Stil wird agitatorisch und emotionell. Die
hellen Posaunen will er „mit einem neuen Klang füllen“.
„Die ganze Welt muss einen grossen Stoss aushalten; es
wird ein solch Spiel angehen, dass die Gottlosen vom
Stuhl gestürzt, die Niedrigen aber erhöhet werden“ 53). „Man
muss gar mächtig Achtung haben auf die neue Bewegung
der jetzigen Welt. Die alten Anschläge werden es ganz
und gar nicht mehr tun, denn es ist eitel Schaum, wie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0052" n="44"/>
die Qual zu vermehren, statt sie zu beheben? Satanische<lb/>
Kräfte sind dort am Werk, wo die natürlichen Fesseln des<lb/>
Menschen durch äussere Auflegung noch vervielfacht werden.<lb/>
Satanische Kräfte dort, wo die Qual, mit der jeder geboren<lb/>
wird, durch das Dasein verdoppelt wird, statt erleichtert zu<lb/>
werden. Die Pseudologie von Gesetz und von Dogma,<lb/>
Erfindung von Herrschern und Theologen, hat sich geeinigt,<lb/>
satanisch zu nennen, was ihrer Usurpation widerspricht. Das<lb/>
Leben hat keinen andern Sinn als die Freiheit. Die äussere<lb/>
Freiheit ist nur die logische Konsequenz der inneren; beide<lb/>
zusammen aber sind unerlässlich, weil sie allein jene nach<lb/>
Goethe wesentlichste Bedingung der Unsterblichkeit erfüllen,<lb/>
&#x201E;dass der ganze Mensch aus sich heraustrete ans Licht&#x201C;.<lb/>
Moral ist Libertinage, gefesselt durch Armut und Mitleid.</p><lb/>
          <p>In einer finsteren Zeit die Vernunft einsam am Werke<lb/>
zu sehen, gewährt ein tröstliches Schauspiel. Von 1523 an<lb/>
trat Münzer systematisch hervor. Seit 1524 richtete er<lb/>
heftige Angriffe gegen Luther. Den &#x201E;wittenbergischen Papst&#x201C;,<lb/>
der seine politische Indulgenz religiös maskierte, hielt er für<lb/>
bei weitem gefährlicher als den römischen. Im Frühjahr<lb/>
1524 richtete er einen Brief an Melanchthon des Inhalts,<lb/>
Melanchthon und Luther missverstünden die werdende neue<lb/>
Kirche durch ihren Buchstabendienst <note xml:id="id52a" next="id52a52a" place="end" n="52)"/>: &#x201E;Ihr zarten Schrift-<lb/>
gelehrten, seid nicht unwillig, ich kann es nicht anders<lb/>
machen&#x201C;. Er erkauft sich von ihrem Hasse die Freiheit,<lb/>
handeln zu dürfen; er spricht von &#x201E;den grossen Hansen,<lb/>
die Gott also lächerlich zum gemalten Männlein gemacht<lb/>
haben&#x201C;. Sein Stil wird agitatorisch und emotionell. Die<lb/>
hellen Posaunen will er &#x201E;mit einem neuen Klang füllen&#x201C;.<lb/>
&#x201E;Die ganze Welt muss einen grossen Stoss aushalten; es<lb/>
wird ein solch Spiel angehen, dass die Gottlosen vom<lb/>
Stuhl gestürzt, die Niedrigen aber erhöhet werden&#x201C; <note xml:id="id53a" next="id53a53a" place="end" n="53)"/>. &#x201E;Man<lb/>
muss gar mächtig Achtung haben auf die neue Bewegung<lb/>
der jetzigen Welt. Die alten Anschläge werden es ganz<lb/>
und gar nicht mehr tun, denn es ist eitel Schaum, wie<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[44/0052] die Qual zu vermehren, statt sie zu beheben? Satanische Kräfte sind dort am Werk, wo die natürlichen Fesseln des Menschen durch äussere Auflegung noch vervielfacht werden. Satanische Kräfte dort, wo die Qual, mit der jeder geboren wird, durch das Dasein verdoppelt wird, statt erleichtert zu werden. Die Pseudologie von Gesetz und von Dogma, Erfindung von Herrschern und Theologen, hat sich geeinigt, satanisch zu nennen, was ihrer Usurpation widerspricht. Das Leben hat keinen andern Sinn als die Freiheit. Die äussere Freiheit ist nur die logische Konsequenz der inneren; beide zusammen aber sind unerlässlich, weil sie allein jene nach Goethe wesentlichste Bedingung der Unsterblichkeit erfüllen, „dass der ganze Mensch aus sich heraustrete ans Licht“. Moral ist Libertinage, gefesselt durch Armut und Mitleid. In einer finsteren Zeit die Vernunft einsam am Werke zu sehen, gewährt ein tröstliches Schauspiel. Von 1523 an trat Münzer systematisch hervor. Seit 1524 richtete er heftige Angriffe gegen Luther. Den „wittenbergischen Papst“, der seine politische Indulgenz religiös maskierte, hielt er für bei weitem gefährlicher als den römischen. Im Frühjahr 1524 richtete er einen Brief an Melanchthon des Inhalts, Melanchthon und Luther missverstünden die werdende neue Kirche durch ihren Buchstabendienst ⁵²⁾ : „Ihr zarten Schrift- gelehrten, seid nicht unwillig, ich kann es nicht anders machen“. Er erkauft sich von ihrem Hasse die Freiheit, handeln zu dürfen; er spricht von „den grossen Hansen, die Gott also lächerlich zum gemalten Männlein gemacht haben“. Sein Stil wird agitatorisch und emotionell. Die hellen Posaunen will er „mit einem neuen Klang füllen“. „Die ganze Welt muss einen grossen Stoss aushalten; es wird ein solch Spiel angehen, dass die Gottlosen vom Stuhl gestürzt, die Niedrigen aber erhöhet werden“ ⁵³⁾ . „Man muss gar mächtig Achtung haben auf die neue Bewegung der jetzigen Welt. Die alten Anschläge werden es ganz und gar nicht mehr tun, denn es ist eitel Schaum, wie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Schulz, Dienstleister (Muttersprachler): Bereitstellung der Texttranskription nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-02-17T09:20:45Z)
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiebibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-02-17T09:20:45Z)

Weitere Informationen:

  • Nach den Richtlinien des Deutschen Textarchivs (DTA) transkribiert und ausgezeichnet.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/52
Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/52>, abgerufen am 23.04.2024.