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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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wurde zur Farce der Freiheit und eine Ermutigung zum
Genuss unter staatlichem Protektorat.

Doch der Staat um des Staates willen besteht nur aus
Verderbnis, sei es Verderben oder Verdorbenheit seiner
Bürger. Ein vergötterter Mönch hat seine Nation in finsterste
Zeiten zurückgeworfen, hat das Streben aller Nationen um
ihre Befreiung zur einzigen Demokratie verzögert und
niedergerissen; hat den Grundstein einer Immoralität gelegt,
die 1914 zur Kriegserklärung Englands und damit zum
Weltkrieg führte 68).

Man legt Luther zur Last, er habe durch einen neuen
Ernst in Glaubensdingen die schöne Renaissance zerstört,
die dekorative Renaissance verhindert. Aber Ideen lassen
sich nicht zerstören, sie kehren zurück; das Wort Renaissance
beweist es gerade. Luther hat Dinge verbrochen, die schlimmer
sind. Er hat Gott verraten an die Gewalt. Er schuf eine
Religion für den Heeresgebrauch. Er hat den Krieg ermutigt
um des Krieges willen, aus "Gläubigkeit". Eine Ueberlast
individuellen "Gewissens", das keine Ablenkung fand in den
Staat, liess die ganze Nation erkranken an Schwermut und
Hypochondrie. Feierlich wurde sie, grillenhaft, launisch und
missvergnügt. Jene "mit sich selbst unzufriedene Selbst-
zufriedenheit", von der Bakunin spricht, Kritteln und Nörgeln
und geistige Impotenz, wurden das Signum des Deutschen;
eine linkische Aermlichkeit, die ihn unmöglich machte.
Goethe bemerkt noch bei Klopstock, dass grosse Menschen
ohne würdigen und breiten Wirkungskreis sich in Seltsam-
keiten entladen. "So aber", fügt Nietzsche hinzu, "verzehrt
sich unser ganzes Volk in Seltsamkeiten". Der rebellisch
gebliebene Geist des übrigen Europa trat in Widerspruch
zu den deutschen Institutionen, zu jenem feudalen Ethos
des Heerwesens, der Vorrechts-Diplomatie, dem Gewissens-
Militarismus.

Wie durch ein Wunder von Sinn erstand Luther ein
Richter in seiner eigenen Zeit. Die Ehre der Nation kann

wurde zur Farce der Freiheit und eine Ermutigung zum
Genuss unter staatlichem Protektorat.

Doch der Staat um des Staates willen besteht nur aus
Verderbnis, sei es Verderben oder Verdorbenheit seiner
Bürger. Ein vergötterter Mönch hat seine Nation in finsterste
Zeiten zurückgeworfen, hat das Streben aller Nationen um
ihre Befreiung zur einzigen Demokratie verzögert und
niedergerissen; hat den Grundstein einer Immoralität gelegt,
die 1914 zur Kriegserklärung Englands und damit zum
Weltkrieg führte 68).

Man legt Luther zur Last, er habe durch einen neuen
Ernst in Glaubensdingen die schöne Renaissance zerstört,
die dekorative Renaissance verhindert. Aber Ideen lassen
sich nicht zerstören, sie kehren zurück; das Wort Renaissance
beweist es gerade. Luther hat Dinge verbrochen, die schlimmer
sind. Er hat Gott verraten an die Gewalt. Er schuf eine
Religion für den Heeresgebrauch. Er hat den Krieg ermutigt
um des Krieges willen, aus „Gläubigkeit“. Eine Ueberlast
individuellen „Gewissens“, das keine Ablenkung fand in den
Staat, liess die ganze Nation erkranken an Schwermut und
Hypochondrie. Feierlich wurde sie, grillenhaft, launisch und
missvergnügt. Jene „mit sich selbst unzufriedene Selbst-
zufriedenheit“, von der Bakunin spricht, Kritteln und Nörgeln
und geistige Impotenz, wurden das Signum des Deutschen;
eine linkische Aermlichkeit, die ihn unmöglich machte.
Goethe bemerkt noch bei Klopstock, dass grosse Menschen
ohne würdigen und breiten Wirkungskreis sich in Seltsam-
keiten entladen. „So aber“, fügt Nietzsche hinzu, „verzehrt
sich unser ganzes Volk in Seltsamkeiten“. Der rebellisch
gebliebene Geist des übrigen Europa trat in Widerspruch
zu den deutschen Institutionen, zu jenem feudalen Ethos
des Heerwesens, der Vorrechts-Diplomatie, dem Gewissens-
Militarismus.

Wie durch ein Wunder von Sinn erstand Luther ein
Richter in seiner eigenen Zeit. Die Ehre der Nation kann

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[50/0058] wurde zur Farce der Freiheit und eine Ermutigung zum Genuss unter staatlichem Protektorat. Doch der Staat um des Staates willen besteht nur aus Verderbnis, sei es Verderben oder Verdorbenheit seiner Bürger. Ein vergötterter Mönch hat seine Nation in finsterste Zeiten zurückgeworfen, hat das Streben aller Nationen um ihre Befreiung zur einzigen Demokratie verzögert und niedergerissen; hat den Grundstein einer Immoralität gelegt, die 1914 zur Kriegserklärung Englands und damit zum Weltkrieg führte ⁶⁸⁾ . Man legt Luther zur Last, er habe durch einen neuen Ernst in Glaubensdingen die schöne Renaissance zerstört, die dekorative Renaissance verhindert. Aber Ideen lassen sich nicht zerstören, sie kehren zurück; das Wort Renaissance beweist es gerade. Luther hat Dinge verbrochen, die schlimmer sind. Er hat Gott verraten an die Gewalt. Er schuf eine Religion für den Heeresgebrauch. Er hat den Krieg ermutigt um des Krieges willen, aus „Gläubigkeit“. Eine Ueberlast individuellen „Gewissens“, das keine Ablenkung fand in den Staat, liess die ganze Nation erkranken an Schwermut und Hypochondrie. Feierlich wurde sie, grillenhaft, launisch und missvergnügt. Jene „mit sich selbst unzufriedene Selbst- zufriedenheit“, von der Bakunin spricht, Kritteln und Nörgeln und geistige Impotenz, wurden das Signum des Deutschen; eine linkische Aermlichkeit, die ihn unmöglich machte. Goethe bemerkt noch bei Klopstock, dass grosse Menschen ohne würdigen und breiten Wirkungskreis sich in Seltsam- keiten entladen. „So aber“, fügt Nietzsche hinzu, „verzehrt sich unser ganzes Volk in Seltsamkeiten“. Der rebellisch gebliebene Geist des übrigen Europa trat in Widerspruch zu den deutschen Institutionen, zu jenem feudalen Ethos des Heerwesens, der Vorrechts-Diplomatie, dem Gewissens- Militarismus. Wie durch ein Wunder von Sinn erstand Luther ein Richter in seiner eigenen Zeit. Die Ehre der Nation kann

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/58>, abgerufen am 25.04.2024.