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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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im Jahre 1836 soll die Welt untergehen. Was kann auch
Besseres geschehen? Niemand lacht diese Leute aus; kein
Scarron schreibt ihren Roman, kein Voltaire rettet für
Deutschland ein Echo des Lachens französischer Höfe. In
der Wissenschaft wird mit Rabbinerverstand um die theo-
logische Intelligenz gestritten 3).

Die kommerziellen Klassen hatten die Aufklärung in
die grossen Hafen- und Handelsstädte Europas gebracht
und mit ihr die Toleranz. Man tolerierte die reisenden
Juden und tolerierte die Refugies aus den Glaubenskämpfen,
weil sie Geld und Beziehungen brachten. Bayle wie Mon-
taigne und Descartes waren toleriert, weil sie Rationalisten
waren und Rationalisten waren sie, weil sie zweifelten. Das
ist die Philosophie des frühen Frankreich. Descartes in
Sonderheit machte der Scholastik den Kampf und entwickelte
das ganze Wissen aus dem Bewusstsein. Sein cogito ergo
sum wurde der egoistische Leitsatz des philosophischen
Individualismus, der in Deutschland schliesslich zum Gelehr-
tenabsolutismus führte und wenn auch ein so heller und
vernünftiger Kopf wie Lichtenberg dem entgegenhielt:
"es denkt, es blitzt" 4), so vermochte das doch nicht zu
verhindern, dass der Individualismus, gestützt auf Luthers
obstinate Widersetzlichkeit die Ideen nur aus dem "Ich"
auch dann noch holte, als die französische Revolution
längst mit Riesenlettern an den europäischen Himmel das
Wort "Brüderlichkeit" geschrieben hatte. (Siehe Fichte, das
grosse Ich von Osmannstedt, wie Schiller ihn nannte).

Kam der Zweifel aus Frankreich, so kam die neue
Moral aus England. Prof. Borgese bemerkt sehr richtig,
man könne des Pangermanisten Paul Rohrbach ,Deutsche
Idee in der Welt' ruhig umändern in ,die englische Idee
in Deutschland' 5) und Prof. Nicolai hat in seinem viel-
berühmten Buche "Die Biologie des Krieges" neuerdings
darauf hingewiesen, in wievielen Hauptpunkten Kant und die
Deutschen von der englischen Moral beeinflusst wurden,


im Jahre 1836 soll die Welt untergehen. Was kann auch
Besseres geschehen? Niemand lacht diese Leute aus; kein
Scarron schreibt ihren Roman, kein Voltaire rettet für
Deutschland ein Echo des Lachens französischer Höfe. In
der Wissenschaft wird mit Rabbinerverstand um die theo-
logische Intelligenz gestritten 3).

Die kommerziellen Klassen hatten die Aufklärung in
die grossen Hafen- und Handelsstädte Europas gebracht
und mit ihr die Toleranz. Man tolerierte die reisenden
Juden und tolerierte die Refugiés aus den Glaubenskämpfen,
weil sie Geld und Beziehungen brachten. Bayle wie Mon-
taigne und Descartes waren toleriert, weil sie Rationalisten
waren und Rationalisten waren sie, weil sie zweifelten. Das
ist die Philosophie des frühen Frankreich. Descartes in
Sonderheit machte der Scholastik den Kampf und entwickelte
das ganze Wissen aus dem Bewusstsein. Sein cogito ergo
sum wurde der egoistische Leitsatz des philosophischen
Individualismus, der in Deutschland schliesslich zum Gelehr-
tenabsolutismus führte und wenn auch ein so heller und
vernünftiger Kopf wie Lichtenberg dem entgegenhielt:
es denkt, es blitzt“ 4), so vermochte das doch nicht zu
verhindern, dass der Individualismus, gestützt auf Luthers
obstinate Widersetzlichkeit die Ideen nur aus dem „Ich“
auch dann noch holte, als die französische Revolution
längst mit Riesenlettern an den europäischen Himmel das
Wort „Brüderlichkeit“ geschrieben hatte. (Siehe Fichte, das
grosse Ich von Osmannstedt, wie Schiller ihn nannte).

Kam der Zweifel aus Frankreich, so kam die neue
Moral aus England. Prof. Borgese bemerkt sehr richtig,
man könne des Pangermanisten Paul Rohrbach ‚Deutsche
Idee in der Welt‘ ruhig umändern in ‚die englische Idee
in Deutschland‘ 5) und Prof. Nicolai hat in seinem viel-
berühmten Buche „Die Biologie des Krieges“ neuerdings
darauf hingewiesen, in wievielen Hauptpunkten Kant und die
Deutschen von der englischen Moral beeinflusst wurden,

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[53/0061] im Jahre 1836 soll die Welt untergehen. Was kann auch Besseres geschehen? Niemand lacht diese Leute aus; kein Scarron schreibt ihren Roman, kein Voltaire rettet für Deutschland ein Echo des Lachens französischer Höfe. In der Wissenschaft wird mit Rabbinerverstand um die theo- logische Intelligenz gestritten ³⁾ . Die kommerziellen Klassen hatten die Aufklärung in die grossen Hafen- und Handelsstädte Europas gebracht und mit ihr die Toleranz. Man tolerierte die reisenden Juden und tolerierte die Refugiés aus den Glaubenskämpfen, weil sie Geld und Beziehungen brachten. Bayle wie Mon- taigne und Descartes waren toleriert, weil sie Rationalisten waren und Rationalisten waren sie, weil sie zweifelten. Das ist die Philosophie des frühen Frankreich. Descartes in Sonderheit machte der Scholastik den Kampf und entwickelte das ganze Wissen aus dem Bewusstsein. Sein cogito ergo sum wurde der egoistische Leitsatz des philosophischen Individualismus, der in Deutschland schliesslich zum Gelehr- tenabsolutismus führte und wenn auch ein so heller und vernünftiger Kopf wie Lichtenberg dem entgegenhielt: „es denkt, es blitzt“ ⁴⁾ , so vermochte das doch nicht zu verhindern, dass der Individualismus, gestützt auf Luthers obstinate Widersetzlichkeit die Ideen nur aus dem „Ich“ auch dann noch holte, als die französische Revolution längst mit Riesenlettern an den europäischen Himmel das Wort „Brüderlichkeit“ geschrieben hatte. (Siehe Fichte, das grosse Ich von Osmannstedt, wie Schiller ihn nannte). Kam der Zweifel aus Frankreich, so kam die neue Moral aus England. Prof. Borgese bemerkt sehr richtig, man könne des Pangermanisten Paul Rohrbach ‚Deutsche Idee in der Welt‘ ruhig umändern in ‚die englische Idee in Deutschland‘ ⁵⁾ und Prof. Nicolai hat in seinem viel- berühmten Buche „Die Biologie des Krieges“ neuerdings darauf hingewiesen, in wievielen Hauptpunkten Kant und die Deutschen von der englischen Moral beeinflusst wurden,

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/61>, abgerufen am 24.04.2024.