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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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evangelisten Rathenau "Mechanik des Geistes" ("Ethik der
Seele", "Aesthetik der Seele", "Pragmatik der Seele"), um
einen Begriff zu bekommen, welche herkulischen Anstren-
gungen noch heute unternommen werden, spitzfindigen Ballast
zu wälzen, Gedanken vorzutäuschen, wo nichts oder wenig
zu sagen ist, und Gesinnungen zu verbergen hinter süss-
reicher Weitschweifigkeit.

Ein Bayle wäre der Nation vorteilhafter gewesen. Ein
wundervoller Jongleur und Equilibrist in moralibus; ein
Geist, in dem das Für und Wider nicht nur seiner Nation,
sondern Europas hätte zur Ansicht kommen können; ein
Wörterbuch, eine Syntax der Möglichkeiten; ein Dialektiker
aller Fähigkeiten und klarer Spiegel der Irrtümer seiner Zeit,
statt eines Despoten abgezogener Moralansichten und ano-
nymer Verpflichtung. Ich stimme Rudolf Kassner zu, wenn
er sagt: "Es scheint, als hätten im Abendland immer nur
einige Köpfe, Philosophen, historische Persönlichkeiten, und
als hätte in Indien die Seele selbst gedacht; .. als wären
ihre Gedanken zu anspruchsvoll, immer zu viel oder zu wenig,
anarchisch oder tyrannisch, "Hintergedanken", ein Umweg,
parvenu; als dächten sie, weil sie nicht liebten"24).

2.

Von Treitschke stammt die Behauptung, unsere klas-
sische Literatur sei vielseitiger, kühner, menschlich freier als
die der Nachbarvölker 25). Derselbe Treitschke weiss aber
sehr wohl, dass noch in den Zeiten des dreissigjährigen
Krieges "der Auswurf aller Völker auf deutscher Erde
hauste"; er weiss, dass im dreissigjährigen Kriege das Reich
"freiwillig aus dem Kreis der grossen Mächte schied"; dass
dieser Krieg "zwei Drittel der Nation" hinwegraffte, und
dass "das verwilderte Geschlecht, das noch in Schmutz und
Armut ein gedrücktes Leben führte", "nichts mehr von der
alten Grossheit des deutschen Charakters, nichts mehr von

evangelisten Rathenau „Mechanik des Geistes“ („Ethik der
Seele“, „Aesthetik der Seele“, „Pragmatik der Seele“), um
einen Begriff zu bekommen, welche herkulischen Anstren-
gungen noch heute unternommen werden, spitzfindigen Ballast
zu wälzen, Gedanken vorzutäuschen, wo nichts oder wenig
zu sagen ist, und Gesinnungen zu verbergen hinter süss-
reicher Weitschweifigkeit.

Ein Bayle wäre der Nation vorteilhafter gewesen. Ein
wundervoller Jongleur und Equilibrist in moralibus; ein
Geist, in dem das Für und Wider nicht nur seiner Nation,
sondern Europas hätte zur Ansicht kommen können; ein
Wörterbuch, eine Syntax der Möglichkeiten; ein Dialektiker
aller Fähigkeiten und klarer Spiegel der Irrtümer seiner Zeit,
statt eines Despoten abgezogener Moralansichten und ano-
nymer Verpflichtung. Ich stimme Rudolf Kassner zu, wenn
er sagt: „Es scheint, als hätten im Abendland immer nur
einige Köpfe, Philosophen, historische Persönlichkeiten, und
als hätte in Indien die Seele selbst gedacht; .. als wären
ihre Gedanken zu anspruchsvoll, immer zu viel oder zu wenig,
anarchisch oder tyrannisch, „Hintergedanken“, ein Umweg,
parvenu; als dächten sie, weil sie nicht liebten“24).

2.

Von Treitschke stammt die Behauptung, unsere klas-
sische Literatur sei vielseitiger, kühner, menschlich freier als
die der Nachbarvölker 25). Derselbe Treitschke weiss aber
sehr wohl, dass noch in den Zeiten des dreissigjährigen
Krieges „der Auswurf aller Völker auf deutscher Erde
hauste“; er weiss, dass im dreissigjährigen Kriege das Reich
„freiwillig aus dem Kreis der grossen Mächte schied“; dass
dieser Krieg „zwei Drittel der Nation“ hinwegraffte, und
dass „das verwilderte Geschlecht, das noch in Schmutz und
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[61/0069] evangelisten Rathenau „Mechanik des Geistes“ („Ethik der Seele“, „Aesthetik der Seele“, „Pragmatik der Seele“), um einen Begriff zu bekommen, welche herkulischen Anstren- gungen noch heute unternommen werden, spitzfindigen Ballast zu wälzen, Gedanken vorzutäuschen, wo nichts oder wenig zu sagen ist, und Gesinnungen zu verbergen hinter süss- reicher Weitschweifigkeit. Ein Bayle wäre der Nation vorteilhafter gewesen. Ein wundervoller Jongleur und Equilibrist in moralibus; ein Geist, in dem das Für und Wider nicht nur seiner Nation, sondern Europas hätte zur Ansicht kommen können; ein Wörterbuch, eine Syntax der Möglichkeiten; ein Dialektiker aller Fähigkeiten und klarer Spiegel der Irrtümer seiner Zeit, statt eines Despoten abgezogener Moralansichten und ano- nymer Verpflichtung. Ich stimme Rudolf Kassner zu, wenn er sagt: „Es scheint, als hätten im Abendland immer nur einige Köpfe, Philosophen, historische Persönlichkeiten, und als hätte in Indien die Seele selbst gedacht; .. als wären ihre Gedanken zu anspruchsvoll, immer zu viel oder zu wenig, anarchisch oder tyrannisch, „Hintergedanken“, ein Umweg, parvenu; als dächten sie, weil sie nicht liebten“ ²⁴⁾ . 2. Von Treitschke stammt die Behauptung, unsere klas- sische Literatur sei vielseitiger, kühner, menschlich freier als die der Nachbarvölker ²⁵⁾ . Derselbe Treitschke weiss aber sehr wohl, dass noch in den Zeiten des dreissigjährigen Krieges „der Auswurf aller Völker auf deutscher Erde hauste“; er weiss, dass im dreissigjährigen Kriege das Reich „freiwillig aus dem Kreis der grossen Mächte schied“; dass dieser Krieg „zwei Drittel der Nation“ hinwegraffte, und dass „das verwilderte Geschlecht, das noch in Schmutz und Armut ein gedrücktes Leben führte“, „nichts mehr von der alten Grossheit des deutschen Charakters, nichts mehr von

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/69>, abgerufen am 29.03.2024.