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Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843.

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Fünftes Kapitel.
liche Kirche hat, insofern sie auf ein unwandelbares Dogma
errichtet ist, keinen Platz für das besondere Volksrecht. Aber
so wie, abgesehen von gewissen Fundamentallehren, das Chri-
stenthum in den verschiedenen Zeiten verschieden ist aufgefaßt
und verstanden worden, ja selbst nach der Individualität der
einzelnen Bekenner von den Zeitgenossen nicht auf die gleiche
Weise begriffen wird; so hat auch die Nationalität allmälig
einen gewissen Einfluß auf dasselbe gewonnen, welcher in sei-
ner Richtung nach außen hin dem Kirchenrecht eine gewisse
nationale Färbung gegeben hat. Konnte der Katholicismus
nur im Mittelpunct der romanischen Welt zu seiner mittelal-
trigen Gestaltung sich entwickeln, so tritt wiederum die Refor-
mation als die Reaction des germanischen Geistes gegen jene,
seinem innersten Wesen widerstrebende Erscheinung auf. Ja inner-
halb des katholischen Kirchenrechts selbst zeigen sich gewisse
nach den Nationen verschiedene Eigenthümlichkeiten, welche
man als Nationalkirchen bezeichnet, so daß es auch nicht auf-
fallen kann, wenn in der evangelischen Kirche sich verschiedene
Formen der Verfassung ausgebildet haben, und das Regiment
derselben an verschiedenen Stellen gesucht werden muß. Daß
in dieser Hinsicht das Volksrecht seine besondere Bedeutung
hat, ist gar nicht zu verkennen, und erklärt sich leicht, wenn
man das in der evangelischen Kirche herrschende Princip der
Freiheit bedenkt, und sich das Zeitalter der Reformation in
seiner tiefen, für Deutschland durchaus nationalen Aufregung
vergegenwärtigt. Es kommt dabei namentlich darauf an, die
selbständige Bedeutung der Gemeinde im Gegensatz zu der
streng durchgeführten Consistorialverfassung gehörig zu würdi-
gen, -- ein Gesichtspunct, der neulich von einem hochgestell-
ten Geistlichen so treffend bezeichnet worden ist, daß ich es

Fuͤnftes Kapitel.
liche Kirche hat, inſofern ſie auf ein unwandelbares Dogma
errichtet iſt, keinen Platz fuͤr das beſondere Volksrecht. Aber
ſo wie, abgeſehen von gewiſſen Fundamentallehren, das Chri-
ſtenthum in den verſchiedenen Zeiten verſchieden iſt aufgefaßt
und verſtanden worden, ja ſelbſt nach der Individualitaͤt der
einzelnen Bekenner von den Zeitgenoſſen nicht auf die gleiche
Weiſe begriffen wird; ſo hat auch die Nationalitaͤt allmaͤlig
einen gewiſſen Einfluß auf daſſelbe gewonnen, welcher in ſei-
ner Richtung nach außen hin dem Kirchenrecht eine gewiſſe
nationale Faͤrbung gegeben hat. Konnte der Katholicismus
nur im Mittelpunct der romaniſchen Welt zu ſeiner mittelal-
trigen Geſtaltung ſich entwickeln, ſo tritt wiederum die Refor-
mation als die Reaction des germaniſchen Geiſtes gegen jene,
ſeinem innerſten Weſen widerſtrebende Erſcheinung auf. Ja inner-
halb des katholiſchen Kirchenrechts ſelbſt zeigen ſich gewiſſe
nach den Nationen verſchiedene Eigenthuͤmlichkeiten, welche
man als Nationalkirchen bezeichnet, ſo daß es auch nicht auf-
fallen kann, wenn in der evangeliſchen Kirche ſich verſchiedene
Formen der Verfaſſung ausgebildet haben, und das Regiment
derſelben an verſchiedenen Stellen geſucht werden muß. Daß
in dieſer Hinſicht das Volksrecht ſeine beſondere Bedeutung
hat, iſt gar nicht zu verkennen, und erklaͤrt ſich leicht, wenn
man das in der evangeliſchen Kirche herrſchende Princip der
Freiheit bedenkt, und ſich das Zeitalter der Reformation in
ſeiner tiefen, fuͤr Deutſchland durchaus nationalen Aufregung
vergegenwaͤrtigt. Es kommt dabei namentlich darauf an, die
ſelbſtaͤndige Bedeutung der Gemeinde im Gegenſatz zu der
ſtreng durchgefuͤhrten Conſiſtorialverfaſſung gehoͤrig zu wuͤrdi-
gen, — ein Geſichtspunct, der neulich von einem hochgeſtell-
ten Geiſtlichen ſo treffend bezeichnet worden iſt, daß ich es

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[154/0166] Fuͤnftes Kapitel. liche Kirche hat, inſofern ſie auf ein unwandelbares Dogma errichtet iſt, keinen Platz fuͤr das beſondere Volksrecht. Aber ſo wie, abgeſehen von gewiſſen Fundamentallehren, das Chri- ſtenthum in den verſchiedenen Zeiten verſchieden iſt aufgefaßt und verſtanden worden, ja ſelbſt nach der Individualitaͤt der einzelnen Bekenner von den Zeitgenoſſen nicht auf die gleiche Weiſe begriffen wird; ſo hat auch die Nationalitaͤt allmaͤlig einen gewiſſen Einfluß auf daſſelbe gewonnen, welcher in ſei- ner Richtung nach außen hin dem Kirchenrecht eine gewiſſe nationale Faͤrbung gegeben hat. Konnte der Katholicismus nur im Mittelpunct der romaniſchen Welt zu ſeiner mittelal- trigen Geſtaltung ſich entwickeln, ſo tritt wiederum die Refor- mation als die Reaction des germaniſchen Geiſtes gegen jene, ſeinem innerſten Weſen widerſtrebende Erſcheinung auf. Ja inner- halb des katholiſchen Kirchenrechts ſelbſt zeigen ſich gewiſſe nach den Nationen verſchiedene Eigenthuͤmlichkeiten, welche man als Nationalkirchen bezeichnet, ſo daß es auch nicht auf- fallen kann, wenn in der evangeliſchen Kirche ſich verſchiedene Formen der Verfaſſung ausgebildet haben, und das Regiment derſelben an verſchiedenen Stellen geſucht werden muß. Daß in dieſer Hinſicht das Volksrecht ſeine beſondere Bedeutung hat, iſt gar nicht zu verkennen, und erklaͤrt ſich leicht, wenn man das in der evangeliſchen Kirche herrſchende Princip der Freiheit bedenkt, und ſich das Zeitalter der Reformation in ſeiner tiefen, fuͤr Deutſchland durchaus nationalen Aufregung vergegenwaͤrtigt. Es kommt dabei namentlich darauf an, die ſelbſtaͤndige Bedeutung der Gemeinde im Gegenſatz zu der ſtreng durchgefuͤhrten Conſiſtorialverfaſſung gehoͤrig zu wuͤrdi- gen, — ein Geſichtspunct, der neulich von einem hochgeſtell- ten Geiſtlichen ſo treffend bezeichnet worden iſt, daß ich es

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Zitationshilfe: Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/166>, abgerufen am 28.03.2024.