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Bierbaum, Otto Julius: Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive. Berlin, 1897.

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Stilpe.

Da war der kleine Junge wieder ganz selig
und fiel dem Mädel um den Hals und drückte
sie, preßte sie, quetschte sie, daß sie ihre Not hatte,
ihn von sich abzustreifen. Ihr Gesicht war ganz
naß von seinen Thränen, und die offenen Haare
hingen ihr über die Brust vor. Sie sahen einander
nicht, aber ihre Blicke hingen ineinander.

Schließlich versetzte ihr Willibald einen Kuß,
so laut und schallend, daß sie nun, ob auch ungern,
es für unumgänglich nötig hielt, ein Ende zu
machen.

-- Nu geh, Du, mach, sonst kommt noch jemand.
Aber so geh doch!

Willibald ließ sie nicht los.

-- Du, ich schreie nu aber! Und wenn mei
Vater kommt!

Der Gedanke an den alten Buschklepper brachte
Willibald zur Besinnung.

-- Ja, ja, aber nicht mehr mit Fliczek'n!

-- Nee, nee, geh nur!

Willibald ließ sie los und lief davon. Er lief,
als hätte er keinerlei Ursache, leise und vorsichtig
aufzutreten, er sprang quer über den Hof, nach
dem Classenzimmer zu. Plötzlich zwang ihn etwas,
stehen zu bleiben.

Stilpe.

Da war der kleine Junge wieder ganz ſelig
und fiel dem Mädel um den Hals und drückte
ſie, preßte ſie, quetſchte ſie, daß ſie ihre Not hatte,
ihn von ſich abzuſtreifen. Ihr Geſicht war ganz
naß von ſeinen Thränen, und die offenen Haare
hingen ihr über die Bruſt vor. Sie ſahen einander
nicht, aber ihre Blicke hingen ineinander.

Schließlich verſetzte ihr Willibald einen Kuß,
ſo laut und ſchallend, daß ſie nun, ob auch ungern,
es für unumgänglich nötig hielt, ein Ende zu
machen.

— Nu geh, Du, mach, ſonſt kommt noch jemand.
Aber ſo geh doch!

Willibald ließ ſie nicht los.

— Du, ich ſchreie nu aber! Und wenn mei
Vater kommt!

Der Gedanke an den alten Buſchklepper brachte
Willibald zur Beſinnung.

— Ja, ja, aber nicht mehr mit Fliczek'n!

— Nee, nee, geh nur!

Willibald ließ ſie los und lief davon. Er lief,
als hätte er keinerlei Urſache, leiſe und vorſichtig
aufzutreten, er ſprang quer über den Hof, nach
dem Claſſenzimmer zu. Plötzlich zwang ihn etwas,
ſtehen zu bleiben.

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[56/0070] Stilpe. Da war der kleine Junge wieder ganz ſelig und fiel dem Mädel um den Hals und drückte ſie, preßte ſie, quetſchte ſie, daß ſie ihre Not hatte, ihn von ſich abzuſtreifen. Ihr Geſicht war ganz naß von ſeinen Thränen, und die offenen Haare hingen ihr über die Bruſt vor. Sie ſahen einander nicht, aber ihre Blicke hingen ineinander. Schließlich verſetzte ihr Willibald einen Kuß, ſo laut und ſchallend, daß ſie nun, ob auch ungern, es für unumgänglich nötig hielt, ein Ende zu machen. — Nu geh, Du, mach, ſonſt kommt noch jemand. Aber ſo geh doch! Willibald ließ ſie nicht los. — Du, ich ſchreie nu aber! Und wenn mei Vater kommt! Der Gedanke an den alten Buſchklepper brachte Willibald zur Beſinnung. — Ja, ja, aber nicht mehr mit Fliczek'n! — Nee, nee, geh nur! Willibald ließ ſie los und lief davon. Er lief, als hätte er keinerlei Urſache, leiſe und vorſichtig aufzutreten, er ſprang quer über den Hof, nach dem Claſſenzimmer zu. Plötzlich zwang ihn etwas, ſtehen zu bleiben.

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Zitationshilfe: Bierbaum, Otto Julius: Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive. Berlin, 1897, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bierbaum_stilpe_1897/70>, abgerufen am 27.04.2024.