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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Fünftes Capitel. III. Die Gesellschaft.
Gesetze geben, noch Regierungshandlungen vollziehen, noch
Recht sprechen. Sie hat nur eine öffentliche Meinung und
übt nur, je nach den Ansichten, Interessen, Verlangen Vieler
oder aller Einzelnen einen mittelbaren Einflusz aus auf
die Organe des Stats. Das Volk ist ein statlicher Be-
griff
, die Gesellschaft ist kein Statsbegriff, sondern nur die
wechselnde Verbindung von Privatpersonen innerhalb
eines Statsgebiets.

Gewisz sind Volk und Gesellschaft, die doch aus densel-
ben Menschen bestehen, in einer engen und mannigfaltigen
Wechselbeziehung. Der Stat ordnet das Recht auch für die
Gesellschaft; der Stat schützt die Gesellschaft und fördert
ihre Interessen vielseitig. Hinwieder unterstützt die Gesell-
schaft den Stat mit ihren ökonomischen und geistigen Mitteln.
Eine leidende Gesellschaft ist auch für den Stat ein Leiden,
eine kranke Gesellschaft bedroht auch den Stat mit Gefahren.
Eine gesunde, wohlhabende, gebildete Gesellschaft stärkt den
Stat und bedingt auch seine Wohlfahrt.

Aber nicht immer besteht zwischen dem Stat und der
Gesellschaft volle Harmonie. Zuweilen stellt die Gesellschaft,
welche voraus ihre Privatinteressen vor Augen hat, oder sich
von wechselnden Windströmen der öffentlichen Meinung leiten
läszt, an den Stat Begehren, welche dieser als ungerecht
oder unzweckmäszig abzuschlagen genöthigt ist. Zuweilen
muthet der Stat der Gesellschaft Leistungen und Opfer zu,
welche diese nur widerwillig auf sich nimmt. Die dauernde
Sicherheit des States und die momentanen Interessen oder
Wünsche gerathen zuweilen in Conflict. Es zeigen sich von
Zeit zu Zeit Uebelstände in der Gesellschaft, deren Heilung
von der Statshülfe erwartet wird, und Mängel in der Stats-
verfassung oder der Statsverwaltung, deren Hebung die Ge-
sellschaft anregt. Es ist eine Hauptaufgabe des Statsrechts
und der Politik, diesen Widerstreit gerecht zu entscheiden
und zweckmäszig auszugleichen.


Fünftes Capitel. III. Die Gesellschaft.
Gesetze geben, noch Regierungshandlungen vollziehen, noch
Recht sprechen. Sie hat nur eine öffentliche Meinung und
übt nur, je nach den Ansichten, Interessen, Verlangen Vieler
oder aller Einzelnen einen mittelbaren Einflusz aus auf
die Organe des Stats. Das Volk ist ein statlicher Be-
griff
, die Gesellschaft ist kein Statsbegriff, sondern nur die
wechselnde Verbindung von Privatpersonen innerhalb
eines Statsgebiets.

Gewisz sind Volk und Gesellschaft, die doch aus densel-
ben Menschen bestehen, in einer engen und mannigfaltigen
Wechselbeziehung. Der Stat ordnet das Recht auch für die
Gesellschaft; der Stat schützt die Gesellschaft und fördert
ihre Interessen vielseitig. Hinwieder unterstützt die Gesell-
schaft den Stat mit ihren ökonomischen und geistigen Mitteln.
Eine leidende Gesellschaft ist auch für den Stat ein Leiden,
eine kranke Gesellschaft bedroht auch den Stat mit Gefahren.
Eine gesunde, wohlhabende, gebildete Gesellschaft stärkt den
Stat und bedingt auch seine Wohlfahrt.

Aber nicht immer besteht zwischen dem Stat und der
Gesellschaft volle Harmonie. Zuweilen stellt die Gesellschaft,
welche voraus ihre Privatinteressen vor Augen hat, oder sich
von wechselnden Windströmen der öffentlichen Meinung leiten
läszt, an den Stat Begehren, welche dieser als ungerecht
oder unzweckmäszig abzuschlagen genöthigt ist. Zuweilen
muthet der Stat der Gesellschaft Leistungen und Opfer zu,
welche diese nur widerwillig auf sich nimmt. Die dauernde
Sicherheit des States und die momentanen Interessen oder
Wünsche gerathen zuweilen in Conflict. Es zeigen sich von
Zeit zu Zeit Uebelstände in der Gesellschaft, deren Heilung
von der Statshülfe erwartet wird, und Mängel in der Stats-
verfassung oder der Statsverwaltung, deren Hebung die Ge-
sellschaft anregt. Es ist eine Hauptaufgabe des Statsrechts
und der Politik, diesen Widerstreit gerecht zu entscheiden
und zweckmäszig auszugleichen.


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[119/0137] Fünftes Capitel. III. Die Gesellschaft. Gesetze geben, noch Regierungshandlungen vollziehen, noch Recht sprechen. Sie hat nur eine öffentliche Meinung und übt nur, je nach den Ansichten, Interessen, Verlangen Vieler oder aller Einzelnen einen mittelbaren Einflusz aus auf die Organe des Stats. Das Volk ist ein statlicher Be- griff, die Gesellschaft ist kein Statsbegriff, sondern nur die wechselnde Verbindung von Privatpersonen innerhalb eines Statsgebiets. Gewisz sind Volk und Gesellschaft, die doch aus densel- ben Menschen bestehen, in einer engen und mannigfaltigen Wechselbeziehung. Der Stat ordnet das Recht auch für die Gesellschaft; der Stat schützt die Gesellschaft und fördert ihre Interessen vielseitig. Hinwieder unterstützt die Gesell- schaft den Stat mit ihren ökonomischen und geistigen Mitteln. Eine leidende Gesellschaft ist auch für den Stat ein Leiden, eine kranke Gesellschaft bedroht auch den Stat mit Gefahren. Eine gesunde, wohlhabende, gebildete Gesellschaft stärkt den Stat und bedingt auch seine Wohlfahrt. Aber nicht immer besteht zwischen dem Stat und der Gesellschaft volle Harmonie. Zuweilen stellt die Gesellschaft, welche voraus ihre Privatinteressen vor Augen hat, oder sich von wechselnden Windströmen der öffentlichen Meinung leiten läszt, an den Stat Begehren, welche dieser als ungerecht oder unzweckmäszig abzuschlagen genöthigt ist. Zuweilen muthet der Stat der Gesellschaft Leistungen und Opfer zu, welche diese nur widerwillig auf sich nimmt. Die dauernde Sicherheit des States und die momentanen Interessen oder Wünsche gerathen zuweilen in Conflict. Es zeigen sich von Zeit zu Zeit Uebelstände in der Gesellschaft, deren Heilung von der Statshülfe erwartet wird, und Mängel in der Stats- verfassung oder der Statsverwaltung, deren Hebung die Ge- sellschaft anregt. Es ist eine Hauptaufgabe des Statsrechts und der Politik, diesen Widerstreit gerecht zu entscheiden und zweckmäszig auszugleichen.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/137>, abgerufen am 29.03.2024.