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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
ruinenhaftes Gemäuer in die neue Zeit hinüber. Um den
modernen Stat richtig zu begreifen, musz man die ältere
mittelalterliche Bedeutung dieser Stände kennen. Aus dem
Gegensatze dazu gelangt das moderne Statsbewusztsein erst
zur Klarheit.



Neuntes Capitel.
1. Der Klerus.

Unter den mittelalterlichen Ständen nahm der Klerus
die oberste Stellung ein. Nach der strengen kirchlichen Lehre
freilich war der Klerus überhaupt kein Volksstand. Er war
ein ordo ecclesiasticus, nicht ein ordo civilis. Der Stat wurde
als eine blosze Laienordnung betrachtet, über welche die
Gott geweihte Priesterschaft erhaben war. Nicht wie die
Brahmanen beriefen sich die christlichen Priester auf ihre be-
sondere göttliche Abstammung, denn sie pflanzten nicht durch
die Ehe ihren Stand fort, wohl aber auf eine göttliche In-
stitution
. Sie sind von dem heiligen Geist erfüllt und durch
die Weihen der Kirche geheiligt. Der niedrigste und sogar
der verdorbenste Kleriker steht dennoch in Folge seines Standes
hoch über dem vornehmsten und selbst dem tugendhaftesten
Laien, wie das Gold über dem Eisen, wie der Geist über
dem Leib.

Die Ideale des Klerus waren den Idealen des Brahmanen-
thums nahe verwandt. Nur verzichtete der christliche Klerus
nicht auf die Herrschaft im State, wie die Brahmanen es ge-
than hatten, und war weniger als diese geneigt, sich der Stats-
ordnung zu fügen. Nach der consequenten Lehre der mittel-
alterlichen Kirche haben die Statsgesetze für die Geistlich-
keit keine verbindliche Kraft; es hängt von ihrer Prüfung und
ihrem Urtheil ab, zu bestimmen, ob und in welchem Umfang

Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
ruinenhaftes Gemäuer in die neue Zeit hinüber. Um den
modernen Stat richtig zu begreifen, musz man die ältere
mittelalterliche Bedeutung dieser Stände kennen. Aus dem
Gegensatze dazu gelangt das moderne Statsbewusztsein erst
zur Klarheit.



Neuntes Capitel.
1. Der Klerus.

Unter den mittelalterlichen Ständen nahm der Klerus
die oberste Stellung ein. Nach der strengen kirchlichen Lehre
freilich war der Klerus überhaupt kein Volksstand. Er war
ein ordo ecclesiasticus, nicht ein ordo civilis. Der Stat wurde
als eine blosze Laienordnung betrachtet, über welche die
Gott geweihte Priesterschaft erhaben war. Nicht wie die
Brahmanen beriefen sich die christlichen Priester auf ihre be-
sondere göttliche Abstammung, denn sie pflanzten nicht durch
die Ehe ihren Stand fort, wohl aber auf eine göttliche In-
stitution
. Sie sind von dem heiligen Geist erfüllt und durch
die Weihen der Kirche geheiligt. Der niedrigste und sogar
der verdorbenste Kleriker steht dennoch in Folge seines Standes
hoch über dem vornehmsten und selbst dem tugendhaftesten
Laien, wie das Gold über dem Eisen, wie der Geist über
dem Leib.

Die Ideale des Klerus waren den Idealen des Brahmanen-
thums nahe verwandt. Nur verzichtete der christliche Klerus
nicht auf die Herrschaft im State, wie die Brahmanen es ge-
than hatten, und war weniger als diese geneigt, sich der Stats-
ordnung zu fügen. Nach der consequenten Lehre der mittel-
alterlichen Kirche haben die Statsgesetze für die Geistlich-
keit keine verbindliche Kraft; es hängt von ihrer Prüfung und
ihrem Urtheil ab, zu bestimmen, ob und in welchem Umfang

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[134/0152] Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur. ruinenhaftes Gemäuer in die neue Zeit hinüber. Um den modernen Stat richtig zu begreifen, musz man die ältere mittelalterliche Bedeutung dieser Stände kennen. Aus dem Gegensatze dazu gelangt das moderne Statsbewusztsein erst zur Klarheit. Neuntes Capitel. 1. Der Klerus. Unter den mittelalterlichen Ständen nahm der Klerus die oberste Stellung ein. Nach der strengen kirchlichen Lehre freilich war der Klerus überhaupt kein Volksstand. Er war ein ordo ecclesiasticus, nicht ein ordo civilis. Der Stat wurde als eine blosze Laienordnung betrachtet, über welche die Gott geweihte Priesterschaft erhaben war. Nicht wie die Brahmanen beriefen sich die christlichen Priester auf ihre be- sondere göttliche Abstammung, denn sie pflanzten nicht durch die Ehe ihren Stand fort, wohl aber auf eine göttliche In- stitution. Sie sind von dem heiligen Geist erfüllt und durch die Weihen der Kirche geheiligt. Der niedrigste und sogar der verdorbenste Kleriker steht dennoch in Folge seines Standes hoch über dem vornehmsten und selbst dem tugendhaftesten Laien, wie das Gold über dem Eisen, wie der Geist über dem Leib. Die Ideale des Klerus waren den Idealen des Brahmanen- thums nahe verwandt. Nur verzichtete der christliche Klerus nicht auf die Herrschaft im State, wie die Brahmanen es ge- than hatten, und war weniger als diese geneigt, sich der Stats- ordnung zu fügen. Nach der consequenten Lehre der mittel- alterlichen Kirche haben die Statsgesetze für die Geistlich- keit keine verbindliche Kraft; es hängt von ihrer Prüfung und ihrem Urtheil ab, zu bestimmen, ob und in welchem Umfang

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/152>, abgerufen am 29.03.2024.