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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
sind zwei Grundsätze: a) dasz die Scheidung nicht weder der
Willkür der einzelnen Ehegatten noch selbst der auflösenden
Willensübereinstimmung beider anheim gegeben werden darf,
sondern nur unter gerichtlicher Mitwirkung und mit gericht-
licher Erlaubnisz zuläszig ist;

b) dasz diese Erlaubnisz bedeutende Gründe voraussetze.
Die Kirche kann hier in höherem Masze das Princip der Un-
auflösbarkeit, welches durch die Idee der Ehe gefordert wird,
vertreten, insofern sie moralisch und geistig einwirkt und
zu dem Gewissen spricht, während der Stat, wenn es sich
um äuszeres Zwangsrecht handelt, genöthigt ist, auch im
Gegensatze zu der Reinheit der Idee die Unvollkommenheit
der realen Zustände zu beachten, und daher Ehen, die inner-
lich doch gebrochen und zerstört
sind, auch von Rechts-
wegen äuszerlich zu lösen. Nur thut der Stat wohl daran,
soweit die Sitten und Lebensverhältnisse des Volkes und die
individuelle Entwicklung es gestatten, die Regel der Unauf-
lösbarkeit möglichst festzuhalten und die Ausnahmen der
Scheidung einer ernsten Controle zu unterwerfen.



Zwanzigstes Capitel.
2. Die Frauen.

Die bisherige Grundansicht aller Völker betrachtet die
Frauen zwar als zu derselben Nation und zu demselben Volke
gehörig, wie ihre Männer oder ihre Väter, aber doch nur
mittelbar mit dem State verbunden, nicht als vollbe-
rechtigte Statsglieder
und Statsgenossen. Erst in
unserer modernen Weltperiode regen sich vorerst Anzeichen
einer andern Meinung. Schon zur Zeit der französischen Re-
volution von 1789 verlangte eine Frauenpetition an den König,
dasz auch dem weiblichen Geschlechte statsbürgerliche Rechte

Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
sind zwei Grundsätze: a) dasz die Scheidung nicht weder der
Willkür der einzelnen Ehegatten noch selbst der auflösenden
Willensübereinstimmung beider anheim gegeben werden darf,
sondern nur unter gerichtlicher Mitwirkung und mit gericht-
licher Erlaubnisz zuläszig ist;

b) dasz diese Erlaubnisz bedeutende Gründe voraussetze.
Die Kirche kann hier in höherem Masze das Princip der Un-
auflösbarkeit, welches durch die Idee der Ehe gefordert wird,
vertreten, insofern sie moralisch und geistig einwirkt und
zu dem Gewissen spricht, während der Stat, wenn es sich
um äuszeres Zwangsrecht handelt, genöthigt ist, auch im
Gegensatze zu der Reinheit der Idee die Unvollkommenheit
der realen Zustände zu beachten, und daher Ehen, die inner-
lich doch gebrochen und zerstört
sind, auch von Rechts-
wegen äuszerlich zu lösen. Nur thut der Stat wohl daran,
soweit die Sitten und Lebensverhältnisse des Volkes und die
individuelle Entwicklung es gestatten, die Regel der Unauf-
lösbarkeit möglichst festzuhalten und die Ausnahmen der
Scheidung einer ernsten Controle zu unterwerfen.



Zwanzigstes Capitel.
2. Die Frauen.

Die bisherige Grundansicht aller Völker betrachtet die
Frauen zwar als zu derselben Nation und zu demselben Volke
gehörig, wie ihre Männer oder ihre Väter, aber doch nur
mittelbar mit dem State verbunden, nicht als vollbe-
rechtigte Statsglieder
und Statsgenossen. Erst in
unserer modernen Weltperiode regen sich vorerst Anzeichen
einer andern Meinung. Schon zur Zeit der französischen Re-
volution von 1789 verlangte eine Frauenpetition an den König,
dasz auch dem weiblichen Geschlechte statsbürgerliche Rechte

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[228/0246] Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur. sind zwei Grundsätze: a) dasz die Scheidung nicht weder der Willkür der einzelnen Ehegatten noch selbst der auflösenden Willensübereinstimmung beider anheim gegeben werden darf, sondern nur unter gerichtlicher Mitwirkung und mit gericht- licher Erlaubnisz zuläszig ist; b) dasz diese Erlaubnisz bedeutende Gründe voraussetze. Die Kirche kann hier in höherem Masze das Princip der Un- auflösbarkeit, welches durch die Idee der Ehe gefordert wird, vertreten, insofern sie moralisch und geistig einwirkt und zu dem Gewissen spricht, während der Stat, wenn es sich um äuszeres Zwangsrecht handelt, genöthigt ist, auch im Gegensatze zu der Reinheit der Idee die Unvollkommenheit der realen Zustände zu beachten, und daher Ehen, die inner- lich doch gebrochen und zerstört sind, auch von Rechts- wegen äuszerlich zu lösen. Nur thut der Stat wohl daran, soweit die Sitten und Lebensverhältnisse des Volkes und die individuelle Entwicklung es gestatten, die Regel der Unauf- lösbarkeit möglichst festzuhalten und die Ausnahmen der Scheidung einer ernsten Controle zu unterwerfen. Zwanzigstes Capitel. 2. Die Frauen. Die bisherige Grundansicht aller Völker betrachtet die Frauen zwar als zu derselben Nation und zu demselben Volke gehörig, wie ihre Männer oder ihre Väter, aber doch nur mittelbar mit dem State verbunden, nicht als vollbe- rechtigte Statsglieder und Statsgenossen. Erst in unserer modernen Weltperiode regen sich vorerst Anzeichen einer andern Meinung. Schon zur Zeit der französischen Re- volution von 1789 verlangte eine Frauenpetition an den König, dasz auch dem weiblichen Geschlechte statsbürgerliche Rechte

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/246>, abgerufen am 28.03.2024.