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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Erstes Capitel. I. Das Klima.
Erscheinung. Die Römer sind im Orient schlaff geworden, die
Germanen haben an der afrikanischen Küste des Mittelmeers
ihre active Willensstärke eingebüszt, auch die Engländer wer-
den leicht träge und wollüstig in Ostindien. Bodin (lib. V.),
Montesquieu (lib. XIV.), Filangieri (I. 14, 15) und
neuestens Buckle (Geschichte der Civilisation I. c. 2) haben
dieser Einwirkung des Klimas auch auf das Statsleben ihre
Aufmerksamkeit zugewendet und die Gesetze derselben zu
bestimmen versucht.

Schon längst hat man die Bemerkung gemacht, dasz so-
wohl die heiszen Tropenländer (bis 23° 28') als die kalten
Polarzonen (über 66° 23') für die Bildung und Entwicklung
der Staten weniger günstig sind, als die zwischen denselben
liegenden gemäszigten Zonen. Mehr als die Hälfte der festen
Erdrinde gehört diesen Zonen an; und überdem ist auf der
nördlichen Hemisphäre, wo die Hauptsitze der Culturvölker
sich finden, festes Land und Wasser in nahezu gleicher Aus-
dehnung vertheilt, 1,117,600 Quadratmeilen Land und 1,231,000
Quadratmeilen Wasser, während sonst überall die Wasserfläche
einen sehr viel gröszeren Raum einnimmt. In kalten Län-
dern wird das Zusammenleben der Menschen sehr erschwert,
weil dieselben weder die Ernährung noch die Erwärmung aus
der Nähe beschaffen können und die zerstreuten einzelnen
Familien haben einen allzuschweren Kampf für ihre Leibes-
noth mit der Natur zu bestehen, als dasz sie die Musze und
die Lust fänden, sich mit den Fragen der Civilisation ernst-
lich zu beschäftigen. Die heiszen Länder aber stimmen die
Massen träge und nur die Leidenschaften flammen von Zeit
zu Zeit heftig auf. Die activen Kräfte werden wenig ent-
wickelt, die passiven Neigungen überwiegen. Der Stat aber
ist auf Selbstbeherrschung und Freiheit angewiesen und be-
darf daher der activen Mannestugend. Die Bevölkerung der
kalten Zonen bewahren wohl eine persönliche Unabhängigkeit,
aber bringen es nicht zur Statseinheit und Statsgemeinschaft,

Erstes Capitel. I. Das Klima.
Erscheinung. Die Römer sind im Orient schlaff geworden, die
Germanen haben an der afrikanischen Küste des Mittelmeers
ihre active Willensstärke eingebüszt, auch die Engländer wer-
den leicht träge und wollüstig in Ostindien. Bodin (lib. V.),
Montesquieu (lib. XIV.), Filangieri (I. 14, 15) und
neuestens Buckle (Geschichte der Civilisation I. c. 2) haben
dieser Einwirkung des Klimas auch auf das Statsleben ihre
Aufmerksamkeit zugewendet und die Gesetze derselben zu
bestimmen versucht.

Schon längst hat man die Bemerkung gemacht, dasz so-
wohl die heiszen Tropenländer (bis 23° 28′) als die kalten
Polarzonen (über 66° 23′) für die Bildung und Entwicklung
der Staten weniger günstig sind, als die zwischen denselben
liegenden gemäszigten Zonen. Mehr als die Hälfte der festen
Erdrinde gehört diesen Zonen an; und überdem ist auf der
nördlichen Hemisphäre, wo die Hauptsitze der Culturvölker
sich finden, festes Land und Wasser in nahezu gleicher Aus-
dehnung vertheilt, 1,117,600 Quadratmeilen Land und 1,231,000
Quadratmeilen Wasser, während sonst überall die Wasserfläche
einen sehr viel gröszeren Raum einnimmt. In kalten Län-
dern wird das Zusammenleben der Menschen sehr erschwert,
weil dieselben weder die Ernährung noch die Erwärmung aus
der Nähe beschaffen können und die zerstreuten einzelnen
Familien haben einen allzuschweren Kampf für ihre Leibes-
noth mit der Natur zu bestehen, als dasz sie die Musze und
die Lust fänden, sich mit den Fragen der Civilisation ernst-
lich zu beschäftigen. Die heiszen Länder aber stimmen die
Massen träge und nur die Leidenschaften flammen von Zeit
zu Zeit heftig auf. Die activen Kräfte werden wenig ent-
wickelt, die passiven Neigungen überwiegen. Der Stat aber
ist auf Selbstbeherrschung und Freiheit angewiesen und be-
darf daher der activen Mannestugend. Die Bevölkerung der
kalten Zonen bewahren wohl eine persönliche Unabhängigkeit,
aber bringen es nicht zur Statseinheit und Statsgemeinschaft,

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[255/0273] Erstes Capitel. I. Das Klima. Erscheinung. Die Römer sind im Orient schlaff geworden, die Germanen haben an der afrikanischen Küste des Mittelmeers ihre active Willensstärke eingebüszt, auch die Engländer wer- den leicht träge und wollüstig in Ostindien. Bodin (lib. V.), Montesquieu (lib. XIV.), Filangieri (I. 14, 15) und neuestens Buckle (Geschichte der Civilisation I. c. 2) haben dieser Einwirkung des Klimas auch auf das Statsleben ihre Aufmerksamkeit zugewendet und die Gesetze derselben zu bestimmen versucht. Schon längst hat man die Bemerkung gemacht, dasz so- wohl die heiszen Tropenländer (bis 23° 28′) als die kalten Polarzonen (über 66° 23′) für die Bildung und Entwicklung der Staten weniger günstig sind, als die zwischen denselben liegenden gemäszigten Zonen. Mehr als die Hälfte der festen Erdrinde gehört diesen Zonen an; und überdem ist auf der nördlichen Hemisphäre, wo die Hauptsitze der Culturvölker sich finden, festes Land und Wasser in nahezu gleicher Aus- dehnung vertheilt, 1,117,600 Quadratmeilen Land und 1,231,000 Quadratmeilen Wasser, während sonst überall die Wasserfläche einen sehr viel gröszeren Raum einnimmt. In kalten Län- dern wird das Zusammenleben der Menschen sehr erschwert, weil dieselben weder die Ernährung noch die Erwärmung aus der Nähe beschaffen können und die zerstreuten einzelnen Familien haben einen allzuschweren Kampf für ihre Leibes- noth mit der Natur zu bestehen, als dasz sie die Musze und die Lust fänden, sich mit den Fragen der Civilisation ernst- lich zu beschäftigen. Die heiszen Länder aber stimmen die Massen träge und nur die Leidenschaften flammen von Zeit zu Zeit heftig auf. Die activen Kräfte werden wenig ent- wickelt, die passiven Neigungen überwiegen. Der Stat aber ist auf Selbstbeherrschung und Freiheit angewiesen und be- darf daher der activen Mannestugend. Die Bevölkerung der kalten Zonen bewahren wohl eine persönliche Unabhängigkeit, aber bringen es nicht zur Statseinheit und Statsgemeinschaft,

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/273>, abgerufen am 24.04.2024.