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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Drittel Capitel. Allgemeine und besondere Statswissenschaft.
begriffe dar, welche in den besonderen Statslehren zu mannig-
faltiger Erscheinung kommen. Die Geschichte, die jene
beachtet, ist die Weltgeschichte, nicht die enge Landes-
geschichte
, welche den besondern Stat erklärt. In der
Weltgeschichte finden wir die Probe der philosophischen Ge-
danken; und in ihr entdecken wir eine Fülle positiven Ge-
haltes, welche so oft der blosz speculativen Betrachtung fehlt.
Die Weltgeschichte zeigt uns die verschiedenen Entwicklungs-
stufen, welche die Menschheit seit ihrer Kindheit durchlebt
hat, und auf jeder finden wir eigenthümliche Anschauungen
vom State und verschiedene Statenbildungen. Sie lehrt uns
das Verhältnisz verstehen, in die mancherlei Natio-
nen an der gemeinsamen Aufgabe der Menschheit Theil ge-
nommen haben.

Aber nicht alle Perioden der Weltgeschichte und nicht
alle Völker haben dieselbe Bedeutung für unsere Wissenschaft.
Den Stat der Gegenwart, den modernen Stat zu er-
kennen, ist vornehmlich ihre Aufgabe. Die antiken und mittel-
alterlichen Statenbildungen kommen nur als Vorstufen in Be-
tracht und um durch den Gegensatz gegen den heutigen Stat
diesen besser ins Licht zu setzen. Den Werth der verschie-
denen Völker für die moderne Statenbildung überhaupt be-
stimmen wir je nach ihrem Antheil an den Fortschritten der
politischen Civilisation, d. h. eines menschlich geordneten und
menschlich freien Gemeinwesens. Die arische Völkerfamilie
(Indo-Germanen) ist vorzugsweise für den Stat, wie die
semitische für die Religion welthistorisch bestimmend ge-
worden; aber erst in Europa haben es auch die arischen
Völker zu einer bewuszteren und edleren Statenbildung ge-
bracht. Sind unter ihnen hinwieder im Alterthum die Helle-
nen
und die Römer, im Mittelalter die Germanen voran
gegangen, so beruht unsere heutige Statscultur vornehmlich
auf der Mischung der helleno-romanischen und germani-
schen Elemente. Die Engländer, in denen diese Mischung

Drittel Capitel. Allgemeine und besondere Statswissenschaft.
begriffe dar, welche in den besonderen Statslehren zu mannig-
faltiger Erscheinung kommen. Die Geschichte, die jene
beachtet, ist die Weltgeschichte, nicht die enge Landes-
geschichte
, welche den besondern Stat erklärt. In der
Weltgeschichte finden wir die Probe der philosophischen Ge-
danken; und in ihr entdecken wir eine Fülle positiven Ge-
haltes, welche so oft der blosz speculativen Betrachtung fehlt.
Die Weltgeschichte zeigt uns die verschiedenen Entwicklungs-
stufen, welche die Menschheit seit ihrer Kindheit durchlebt
hat, und auf jeder finden wir eigenthümliche Anschauungen
vom State und verschiedene Statenbildungen. Sie lehrt uns
das Verhältnisz verstehen, in die mancherlei Natio-
nen an der gemeinsamen Aufgabe der Menschheit Theil ge-
nommen haben.

Aber nicht alle Perioden der Weltgeschichte und nicht
alle Völker haben dieselbe Bedeutung für unsere Wissenschaft.
Den Stat der Gegenwart, den modernen Stat zu er-
kennen, ist vornehmlich ihre Aufgabe. Die antiken und mittel-
alterlichen Statenbildungen kommen nur als Vorstufen in Be-
tracht und um durch den Gegensatz gegen den heutigen Stat
diesen besser ins Licht zu setzen. Den Werth der verschie-
denen Völker für die moderne Statenbildung überhaupt be-
stimmen wir je nach ihrem Antheil an den Fortschritten der
politischen Civilisation, d. h. eines menschlich geordneten und
menschlich freien Gemeinwesens. Die arische Völkerfamilie
(Indo-Germanen) ist vorzugsweise für den Stat, wie die
semitische für die Religion welthistorisch bestimmend ge-
worden; aber erst in Europa haben es auch die arischen
Völker zu einer bewuszteren und edleren Statenbildung ge-
bracht. Sind unter ihnen hinwieder im Alterthum die Helle-
nen
und die Römer, im Mittelalter die Germanen voran
gegangen, so beruht unsere heutige Statscultur vornehmlich
auf der Mischung der helleno-romanischen und germani-
schen Elemente. Die Engländer, in denen diese Mischung

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[12/0030] Drittel Capitel. Allgemeine und besondere Statswissenschaft. begriffe dar, welche in den besonderen Statslehren zu mannig- faltiger Erscheinung kommen. Die Geschichte, die jene beachtet, ist die Weltgeschichte, nicht die enge Landes- geschichte, welche den besondern Stat erklärt. In der Weltgeschichte finden wir die Probe der philosophischen Ge- danken; und in ihr entdecken wir eine Fülle positiven Ge- haltes, welche so oft der blosz speculativen Betrachtung fehlt. Die Weltgeschichte zeigt uns die verschiedenen Entwicklungs- stufen, welche die Menschheit seit ihrer Kindheit durchlebt hat, und auf jeder finden wir eigenthümliche Anschauungen vom State und verschiedene Statenbildungen. Sie lehrt uns das Verhältnisz verstehen, in die mancherlei Natio- nen an der gemeinsamen Aufgabe der Menschheit Theil ge- nommen haben. Aber nicht alle Perioden der Weltgeschichte und nicht alle Völker haben dieselbe Bedeutung für unsere Wissenschaft. Den Stat der Gegenwart, den modernen Stat zu er- kennen, ist vornehmlich ihre Aufgabe. Die antiken und mittel- alterlichen Statenbildungen kommen nur als Vorstufen in Be- tracht und um durch den Gegensatz gegen den heutigen Stat diesen besser ins Licht zu setzen. Den Werth der verschie- denen Völker für die moderne Statenbildung überhaupt be- stimmen wir je nach ihrem Antheil an den Fortschritten der politischen Civilisation, d. h. eines menschlich geordneten und menschlich freien Gemeinwesens. Die arische Völkerfamilie (Indo-Germanen) ist vorzugsweise für den Stat, wie die semitische für die Religion welthistorisch bestimmend ge- worden; aber erst in Europa haben es auch die arischen Völker zu einer bewuszteren und edleren Statenbildung ge- bracht. Sind unter ihnen hinwieder im Alterthum die Helle- nen und die Römer, im Mittelalter die Germanen voran gegangen, so beruht unsere heutige Statscultur vornehmlich auf der Mischung der helleno-romanischen und germani- schen Elemente. Die Engländer, in denen diese Mischung

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/30>, abgerufen am 19.04.2024.