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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Erstes Capitel. Einleitung.
wusztsein gelangt, als es schon mancherlei Staten auf der
Erde gab. Selbst die uralten heiligen Bücher der Juden,
welche uns über die erste Entstehung des jüdischen States ein
Zeugnisz geben, setzen doch den ältern ägyptischen voraus,
ohne uns von dessen Geburt zu berichten. Und dem ägypti-
schen Stat hat vielleicht der indische als Vorbild gedient,
dessen erste Pflanzung auch die heiligen Schriften der Indier
nicht beleuchten.

Wohl aber hat die Geschichte seither den Anfang und
das Ende sehr vieler Staten beobachtet, und ertheilt uns so
einen viel reichhaltigeren Aufschlusz über die Gründung und
den Untergang der Staten, als die blosze Speculation. Die
Staten des Alterthums sind in Europa alle, in Asien fast alle
schon seit Jahrhunderten verstorben; die Geburt der meisten
gegenwärtig bestehenden Staten fällt in eine historisch be-
kannte Zeit. Manche derselben sind noch von sehr jungem
Alter. Die Vorbedingungen ihrer Enstehung, und die Mo-
mente, durch deren Einwirkung sie geworden, sind unserm
Blicke keineswegs verborgen, wenn uns schon, wie in aller
geistigen und physischen Schöpfung, die schöpferische Kraft
selbst wie durch ein göttliches Geheimnisz verhüllt bleibt.

Die Art des Ursprungs eines States ist aber nicht blosz
ein Phänomen von groszem psychologischem und historischem
Interesse. Sie übt auch einen fortwährenden Einflusz aus auf
das ganze übrige Leben des States, und bestimmt groszen-
theils auch sein Verhältnisz zu andern Staten. 1

Daher hat es für das Statsrecht noch mehr Interesse, die
verschiedenen Entstehungsformen der Staten zu betrachten,
als für das Privatrecht die mancherlei Formen des Eigen-
thumserwerbs, obwohl die Neuern die erstere Lehre fast ganz

1 Tocqueville, de la
democratie en Amerique. I. S. 46: "Les peuples
se ressentent toujours de leur origine. Les cireonstances qui ont accom-
pagne leur naissance et servi a leur developpement influent
sur tont le
reste de leur carriere."

Erstes Capitel. Einleitung.
wusztsein gelangt, als es schon mancherlei Staten auf der
Erde gab. Selbst die uralten heiligen Bücher der Juden,
welche uns über die erste Entstehung des jüdischen States ein
Zeugnisz geben, setzen doch den ältern ägyptischen voraus,
ohne uns von dessen Geburt zu berichten. Und dem ägypti-
schen Stat hat vielleicht der indische als Vorbild gedient,
dessen erste Pflanzung auch die heiligen Schriften der Indier
nicht beleuchten.

Wohl aber hat die Geschichte seither den Anfang und
das Ende sehr vieler Staten beobachtet, und ertheilt uns so
einen viel reichhaltigeren Aufschlusz über die Gründung und
den Untergang der Staten, als die blosze Speculation. Die
Staten des Alterthums sind in Europa alle, in Asien fast alle
schon seit Jahrhunderten verstorben; die Geburt der meisten
gegenwärtig bestehenden Staten fällt in eine historisch be-
kannte Zeit. Manche derselben sind noch von sehr jungem
Alter. Die Vorbedingungen ihrer Enstehung, und die Mo-
mente, durch deren Einwirkung sie geworden, sind unserm
Blicke keineswegs verborgen, wenn uns schon, wie in aller
geistigen und physischen Schöpfung, die schöpferische Kraft
selbst wie durch ein göttliches Geheimnisz verhüllt bleibt.

Die Art des Ursprungs eines States ist aber nicht blosz
ein Phänomen von groszem psychologischem und historischem
Interesse. Sie übt auch einen fortwährenden Einflusz aus auf
das ganze übrige Leben des States, und bestimmt groszen-
theils auch sein Verhältnisz zu andern Staten. 1

Daher hat es für das Statsrecht noch mehr Interesse, die
verschiedenen Entstehungsformen der Staten zu betrachten,
als für das Privatrecht die mancherlei Formen des Eigen-
thumserwerbs, obwohl die Neuern die erstere Lehre fast ganz

1 Tocqueville, de la
démocratie en Amérique. I. S. 46: „Les peuples
se ressentent toujours de leur origine. Les cireonstances qui ont accom-
pagné leur naissance et servi à leur développement influent
sur tont le
reste de leur carrière.“
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[299/0317] Erstes Capitel. Einleitung. wusztsein gelangt, als es schon mancherlei Staten auf der Erde gab. Selbst die uralten heiligen Bücher der Juden, welche uns über die erste Entstehung des jüdischen States ein Zeugnisz geben, setzen doch den ältern ägyptischen voraus, ohne uns von dessen Geburt zu berichten. Und dem ägypti- schen Stat hat vielleicht der indische als Vorbild gedient, dessen erste Pflanzung auch die heiligen Schriften der Indier nicht beleuchten. Wohl aber hat die Geschichte seither den Anfang und das Ende sehr vieler Staten beobachtet, und ertheilt uns so einen viel reichhaltigeren Aufschlusz über die Gründung und den Untergang der Staten, als die blosze Speculation. Die Staten des Alterthums sind in Europa alle, in Asien fast alle schon seit Jahrhunderten verstorben; die Geburt der meisten gegenwärtig bestehenden Staten fällt in eine historisch be- kannte Zeit. Manche derselben sind noch von sehr jungem Alter. Die Vorbedingungen ihrer Enstehung, und die Mo- mente, durch deren Einwirkung sie geworden, sind unserm Blicke keineswegs verborgen, wenn uns schon, wie in aller geistigen und physischen Schöpfung, die schöpferische Kraft selbst wie durch ein göttliches Geheimnisz verhüllt bleibt. Die Art des Ursprungs eines States ist aber nicht blosz ein Phänomen von groszem psychologischem und historischem Interesse. Sie übt auch einen fortwährenden Einflusz aus auf das ganze übrige Leben des States, und bestimmt groszen- theils auch sein Verhältnisz zu andern Staten. 1 Daher hat es für das Statsrecht noch mehr Interesse, die verschiedenen Entstehungsformen der Staten zu betrachten, als für das Privatrecht die mancherlei Formen des Eigen- thumserwerbs, obwohl die Neuern die erstere Lehre fast ganz 1 Tocqueville, de la démocratie en Amérique. I. S. 46: „Les peuples se ressentent toujours de leur origine. Les cireonstances qui ont accom- pagné leur naissance et servi à leur développement influent sur tont le reste de leur carrière.“

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/317>, abgerufen am 18.04.2024.