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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Erstes Capitel. Statsbegriff u. Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff.
die Volkszahl der einzelnen Staten sein kann, indem die einen
nur wenige Tausende, andere dagegen viele Millionen Menschen
umfassen, so steht doch das fest, dasz von Stat erst dann die
Rede ist, wenn der Kreis einer bloszen Familie über-
schritten
ist, und sich eine Menge von Menschen (be-
ziehungsweise von Familien, Männer, Weiber und Kinder)
vereinigt finden. Eine Familie, ein Geschlecht wie das Haus
des jüdischen Erzvaters Jakob kann der Kern werden, um den
sich mit der Zeit eine gröszere Menge Menschen ansammelt,
aber erst wenn das geschehen ist, erst wenn die einzelne
Familie sich in eine Reihe von Familien aufgelöst hat, und
die Verwandtschaft zur Völkerschaft erweitert ist, ist
eine wirkliche Statenbildung möglich. Die Horde ist noch
nicht Völkerschaft. Ohne Völkerschaft, oder auf den
höheren Stufen der Civilisation, ohne Volk kein Stat.

Eine Normalzahl für die Grösze des Volks im Stat gibt
es nicht, am wenigsten eine so geringe, wie Rousseau ge-
meint hat, von nur 10,000 Mann. Im Mittelalter konnten
wohl so kleine Staten sicher und würdig bestehen. Die neuere
Zeit treibt zu gröszerer Statenbildung an, theils weil die politi-
schen Aufgaben des modernen Stats einer reicheren Fülle von
Volkskräften bedürfen, theils weil die gesteigerte Macht der
Groszstaten für die Unabhängigkeit und Freiheit der Klein-
staten leicht gefährlich und bedrohlich wird.

2. Sodann zeigt sich eine dauernde Beziehung des
Volkes zum Boden als nothwendig für die Fortdauer des
Stats. Der Stat verlangt ein Statsgebiet, zum Volke gehört
das Land
.

Nomadenvölker, obwohl Häuptlinge an ihrer Spitze
stehen, und obwohl sie unter sich das Recht handhaben, be-
wegen sich doch nur in dem Vorhofe des States. Erst die
feste Niederlassung derselben bedingt das Statwerden. Moses
hat des jüdische Volk zum Stat erzogen, aber Josua erst hat
den jüdischen Stat in Palästina gegründet. Als in den Zeiten

Erstes Capitel. Statsbegriff u. Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff.
die Volkszahl der einzelnen Staten sein kann, indem die einen
nur wenige Tausende, andere dagegen viele Millionen Menschen
umfassen, so steht doch das fest, dasz von Stat erst dann die
Rede ist, wenn der Kreis einer bloszen Familie über-
schritten
ist, und sich eine Menge von Menschen (be-
ziehungsweise von Familien, Männer, Weiber und Kinder)
vereinigt finden. Eine Familie, ein Geschlecht wie das Haus
des jüdischen Erzvaters Jakob kann der Kern werden, um den
sich mit der Zeit eine gröszere Menge Menschen ansammelt,
aber erst wenn das geschehen ist, erst wenn die einzelne
Familie sich in eine Reihe von Familien aufgelöst hat, und
die Verwandtschaft zur Völkerschaft erweitert ist, ist
eine wirkliche Statenbildung möglich. Die Horde ist noch
nicht Völkerschaft. Ohne Völkerschaft, oder auf den
höheren Stufen der Civilisation, ohne Volk kein Stat.

Eine Normalzahl für die Grösze des Volks im Stat gibt
es nicht, am wenigsten eine so geringe, wie Rousseau ge-
meint hat, von nur 10,000 Mann. Im Mittelalter konnten
wohl so kleine Staten sicher und würdig bestehen. Die neuere
Zeit treibt zu gröszerer Statenbildung an, theils weil die politi-
schen Aufgaben des modernen Stats einer reicheren Fülle von
Volkskräften bedürfen, theils weil die gesteigerte Macht der
Groszstaten für die Unabhängigkeit und Freiheit der Klein-
staten leicht gefährlich und bedrohlich wird.

2. Sodann zeigt sich eine dauernde Beziehung des
Volkes zum Boden als nothwendig für die Fortdauer des
Stats. Der Stat verlangt ein Statsgebiet, zum Volke gehört
das Land
.

Nomadenvölker, obwohl Häuptlinge an ihrer Spitze
stehen, und obwohl sie unter sich das Recht handhaben, be-
wegen sich doch nur in dem Vorhofe des States. Erst die
feste Niederlassung derselben bedingt das Statwerden. Moses
hat des jüdische Volk zum Stat erzogen, aber Josua erst hat
den jüdischen Stat in Palästina gegründet. Als in den Zeiten

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[15/0033] Erstes Capitel. Statsbegriff u. Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff. die Volkszahl der einzelnen Staten sein kann, indem die einen nur wenige Tausende, andere dagegen viele Millionen Menschen umfassen, so steht doch das fest, dasz von Stat erst dann die Rede ist, wenn der Kreis einer bloszen Familie über- schritten ist, und sich eine Menge von Menschen (be- ziehungsweise von Familien, Männer, Weiber und Kinder) vereinigt finden. Eine Familie, ein Geschlecht wie das Haus des jüdischen Erzvaters Jakob kann der Kern werden, um den sich mit der Zeit eine gröszere Menge Menschen ansammelt, aber erst wenn das geschehen ist, erst wenn die einzelne Familie sich in eine Reihe von Familien aufgelöst hat, und die Verwandtschaft zur Völkerschaft erweitert ist, ist eine wirkliche Statenbildung möglich. Die Horde ist noch nicht Völkerschaft. Ohne Völkerschaft, oder auf den höheren Stufen der Civilisation, ohne Volk kein Stat. Eine Normalzahl für die Grösze des Volks im Stat gibt es nicht, am wenigsten eine so geringe, wie Rousseau ge- meint hat, von nur 10,000 Mann. Im Mittelalter konnten wohl so kleine Staten sicher und würdig bestehen. Die neuere Zeit treibt zu gröszerer Statenbildung an, theils weil die politi- schen Aufgaben des modernen Stats einer reicheren Fülle von Volkskräften bedürfen, theils weil die gesteigerte Macht der Groszstaten für die Unabhängigkeit und Freiheit der Klein- staten leicht gefährlich und bedrohlich wird. 2. Sodann zeigt sich eine dauernde Beziehung des Volkes zum Boden als nothwendig für die Fortdauer des Stats. Der Stat verlangt ein Statsgebiet, zum Volke gehört das Land. Nomadenvölker, obwohl Häuptlinge an ihrer Spitze stehen, und obwohl sie unter sich das Recht handhaben, be- wegen sich doch nur in dem Vorhofe des States. Erst die feste Niederlassung derselben bedingt das Statwerden. Moses hat des jüdische Volk zum Stat erzogen, aber Josua erst hat den jüdischen Stat in Palästina gegründet. Als in den Zeiten

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/33>, abgerufen am 19.04.2024.