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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
mäszigkeit absoluter Herrschaft vertheidigen zu helfen. Es
verhält sich mit ihr umgekehrt wie mit der Lehre von der
Gewalt.

Wie diese vorzugsweise den Despotismus roher Ueber-
macht begünstigt, ausnahmsweise aber auch die gewaltsamen
Vorgänge der Empörung deckt, so ist die Vertragstheorie
voraus der Anarchie günstig, schützt aber ausnahmsweise auch
die Unterdrückung verhaszter Minderheiten durch willkürliche
Mehrheiten oder die Tyrannei des Siegers über die Besiegten,
welche sich ihm ergeben haben.

Diese Theorie erhebt den Anspruch auf allgemeine Gül-
tigkeit. Nach derselben beruht die Entstehung aller Staten
und in gewissen Betracht auch die Fortdauer aller Staten
auf Vertrag. Die Geschichte aber, welche uns so reiche Auf-
schlüsse über die Statenbildung eröffnet, weisz auch nicht ein
einziges Beispiel, in welchem wirklich durch Verabredung und
Vertrag der Individuen ein Stat "contrahirt" worden wäre.
Wohl kennt sie einzelne Fälle von Verträgen zweier oder
mehrerer Staten
, durch welche ein neuer Stat gegründet
wurde, auch einige Fälle, in denen Fürsten und Häuptlinge
sich mit einzelnen Classen oder Ständen des Volks vertrags-
mäszig zu neuen Statsformen vereinbarten, aber sie kennt
keinen Fall, in welchem ein Stat wie eine Handelsgesellschaft
oder eine "Brandkasse" durch seine "gleichen" Bürger errich-
tet worden wäre. Eben so wenig unterstützt die Geschichte
die Meinung, dasz auch die Fortsetzung der Staten aus einer
steten Vertragserneuerung der Individuen abzuleiten sei. Viel-
mehr zeigt sie uns, dasz das Individuum schon als Glied des
States
geboren und erzogen wird, und mit seiner Erzeugung,
Geburt und Erziehung auch das bestimmte Gepräge des Volks
und des Vaterlandes empfängt, dem es zugehört, bevor es im
Stande ist, einen eigenen selbständigen Willen zu haben und
zu äuszern.

Das Zeugnisz der Geschichte steht somit jener Theorie

Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
mäszigkeit absoluter Herrschaft vertheidigen zu helfen. Es
verhält sich mit ihr umgekehrt wie mit der Lehre von der
Gewalt.

Wie diese vorzugsweise den Despotismus roher Ueber-
macht begünstigt, ausnahmsweise aber auch die gewaltsamen
Vorgänge der Empörung deckt, so ist die Vertragstheorie
voraus der Anarchie günstig, schützt aber ausnahmsweise auch
die Unterdrückung verhaszter Minderheiten durch willkürliche
Mehrheiten oder die Tyrannei des Siegers über die Besiegten,
welche sich ihm ergeben haben.

Diese Theorie erhebt den Anspruch auf allgemeine Gül-
tigkeit. Nach derselben beruht die Entstehung aller Staten
und in gewissen Betracht auch die Fortdauer aller Staten
auf Vertrag. Die Geschichte aber, welche uns so reiche Auf-
schlüsse über die Statenbildung eröffnet, weisz auch nicht ein
einziges Beispiel, in welchem wirklich durch Verabredung und
Vertrag der Individuen ein Stat „contrahirt“ worden wäre.
Wohl kennt sie einzelne Fälle von Verträgen zweier oder
mehrerer Staten
, durch welche ein neuer Stat gegründet
wurde, auch einige Fälle, in denen Fürsten und Häuptlinge
sich mit einzelnen Classen oder Ständen des Volks vertrags-
mäszig zu neuen Statsformen vereinbarten, aber sie kennt
keinen Fall, in welchem ein Stat wie eine Handelsgesellschaft
oder eine „Brandkasse“ durch seine „gleichen“ Bürger errich-
tet worden wäre. Eben so wenig unterstützt die Geschichte
die Meinung, dasz auch die Fortsetzung der Staten aus einer
steten Vertragserneuerung der Individuen abzuleiten sei. Viel-
mehr zeigt sie uns, dasz das Individuum schon als Glied des
States
geboren und erzogen wird, und mit seiner Erzeugung,
Geburt und Erziehung auch das bestimmte Gepräge des Volks
und des Vaterlandes empfängt, dem es zugehört, bevor es im
Stande ist, einen eigenen selbständigen Willen zu haben und
zu äuszern.

Das Zeugnisz der Geschichte steht somit jener Theorie

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[336/0354] Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States. mäszigkeit absoluter Herrschaft vertheidigen zu helfen. Es verhält sich mit ihr umgekehrt wie mit der Lehre von der Gewalt. Wie diese vorzugsweise den Despotismus roher Ueber- macht begünstigt, ausnahmsweise aber auch die gewaltsamen Vorgänge der Empörung deckt, so ist die Vertragstheorie voraus der Anarchie günstig, schützt aber ausnahmsweise auch die Unterdrückung verhaszter Minderheiten durch willkürliche Mehrheiten oder die Tyrannei des Siegers über die Besiegten, welche sich ihm ergeben haben. Diese Theorie erhebt den Anspruch auf allgemeine Gül- tigkeit. Nach derselben beruht die Entstehung aller Staten und in gewissen Betracht auch die Fortdauer aller Staten auf Vertrag. Die Geschichte aber, welche uns so reiche Auf- schlüsse über die Statenbildung eröffnet, weisz auch nicht ein einziges Beispiel, in welchem wirklich durch Verabredung und Vertrag der Individuen ein Stat „contrahirt“ worden wäre. Wohl kennt sie einzelne Fälle von Verträgen zweier oder mehrerer Staten, durch welche ein neuer Stat gegründet wurde, auch einige Fälle, in denen Fürsten und Häuptlinge sich mit einzelnen Classen oder Ständen des Volks vertrags- mäszig zu neuen Statsformen vereinbarten, aber sie kennt keinen Fall, in welchem ein Stat wie eine Handelsgesellschaft oder eine „Brandkasse“ durch seine „gleichen“ Bürger errich- tet worden wäre. Eben so wenig unterstützt die Geschichte die Meinung, dasz auch die Fortsetzung der Staten aus einer steten Vertragserneuerung der Individuen abzuleiten sei. Viel- mehr zeigt sie uns, dasz das Individuum schon als Glied des States geboren und erzogen wird, und mit seiner Erzeugung, Geburt und Erziehung auch das bestimmte Gepräge des Volks und des Vaterlandes empfängt, dem es zugehört, bevor es im Stande ist, einen eigenen selbständigen Willen zu haben und zu äuszern. Das Zeugnisz der Geschichte steht somit jener Theorie

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/354>, abgerufen am 19.04.2024.