Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
tigere herrsche," und erkennt in der Ueberlegenheit des einen
und in dem Bedürfnisz des andern den Grund aller Herrschaft und
aller Abhängigkeit. Er nennt dasselbe eine ewige, unabänderliche Ord-
nung Gottes. Schon diese Hinweisung zeigt, dasz ihm Macht nicht
gleichbedeutend mit Gewalt ist, und er führt den Gegensatz näher aus. --
"Jene wird beschränkt durch die Pflicht. Durch das moralische Pflicht-
gesetz, welches Gott in die Herzen der Menschen geschrieben, welches
sich in dem Gewissen der Kinder schon kund gibt, und in allen Zeiten
unter allen Völkern offenbar wurde: "Meide Böses und thue Gutes,"
und: "Beleidige niemand und lasz jedem das Seine;" durch das Gesetz
der "Gerechtigkeit" und das Gesetz der "Liebe" wird dafür gesorgt,
dasz die Macht (potentia) nicht in schädliche Gewalt (vis) ausarte.
Diese beiden Gesetze sind von Gott dem Menschen eingepflanzt, sie sind
diesem anerboren. Sie sind allgemein und nothwendig, ewig und unab-
änderlich. Sie sind jedem verständlich, und die obersten und höchsten,
denen alle andern menschlichen Gesetze sich unterordnen müssen, von
denen niemand zu dispensiren befugt ist. Sie sind auch die mildesten
und freundlichsten, ihr Joch ist sanft und ihre Last ist leicht. Nicht
der allgemeine Volkswille, nicht das allgemeine Wohl, auch nicht die
Furcht vor menschlicher Gewalt, sondern einzig der göttliche Wille ist
der Grund dieses Pflichtgesetzes. Es gilt daher auch für die Mächtigen.
Jede Uebertretung derselben ist ein unerlaubter Miszbrauch der Gewalt
von dem gemeinsten Hausvater bis zu dem gröszten Potentaten hinauf,
eine Ungerechtigkeit oder eine Lieblosigkeit. Die Gerechtigkeit darf
man fordern von dem Starken wie von dem Schwachen, sobald man sie
selbst beobachtet, Liebe und Wohlwollen von dem bessern Theil des
menschlichen Herzens erwarten. Gegen den möglichen Miszbrauch der
höchsten Gewalt gibt es keine Hülfe durch menschliche Einrichtungen.
Es gibt über die höchste Gewalt keinen menschlichen Richter. "Es
gibt nirgends Hülfe als bei Gott." "Der Glaube an Gott," wie Plutarch
sagt, "ist das Band und der Kitt aller menschlichen Gesellschaft und
die Stütze der Gerechtigkeit." Die Religion allein vermag die Macht in
ihren Schranken zu halten und die Schwachen zu stärken."

Wir haben die Grundzüge der Haller'schen Doctrin mit ihren eigenen
Worten wiedergegeben. Dabei fällt es freilich auf, dasz er das Recht
und den Stat nicht aus der Gerechtigkeit, sondern aus der Macht
ableitet, und jene nur als die Schranke dieser erfaszt. Die Macht
gibt nach ihm Recht und nur die Macht gibt Recht; je gröszer die
Macht, desto höher das Recht, während in Wahrheit die Macht für sich
allein nur ein thatsächliches, nicht ein Rechtsverhältnisz bildet. Dieser
Zug geht aber durch das ganze System durch. Die Ehrfurcht vor der
realen Macht, wie sie sich in den natürlichen Verhältnissen äuszerlich
sichtbar darstellt, wie sie historisch geworden ist, verschlieszt ihm öfter
die Einsicht in den ideal-sittlichen Charakter des Rechts und in das

Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
tigere herrsche,“ und erkennt in der Ueberlegenheit des einen
und in dem Bedürfnisz des andern den Grund aller Herrschaft und
aller Abhängigkeit. Er nennt dasselbe eine ewige, unabänderliche Ord-
nung Gottes. Schon diese Hinweisung zeigt, dasz ihm Macht nicht
gleichbedeutend mit Gewalt ist, und er führt den Gegensatz näher aus. —
„Jene wird beschränkt durch die Pflicht. Durch das moralische Pflicht-
gesetz, welches Gott in die Herzen der Menschen geschrieben, welches
sich in dem Gewissen der Kinder schon kund gibt, und in allen Zeiten
unter allen Völkern offenbar wurde: „Meide Böses und thue Gutes,“
und: „Beleidige niemand und lasz jedem das Seine;“ durch das Gesetz
der „Gerechtigkeit“ und das Gesetz der „Liebe“ wird dafür gesorgt,
dasz die Macht (potentia) nicht in schädliche Gewalt (vis) ausarte.
Diese beiden Gesetze sind von Gott dem Menschen eingepflanzt, sie sind
diesem anerboren. Sie sind allgemein und nothwendig, ewig und unab-
änderlich. Sie sind jedem verständlich, und die obersten und höchsten,
denen alle andern menschlichen Gesetze sich unterordnen müssen, von
denen niemand zu dispensiren befugt ist. Sie sind auch die mildesten
und freundlichsten, ihr Joch ist sanft und ihre Last ist leicht. Nicht
der allgemeine Volkswille, nicht das allgemeine Wohl, auch nicht die
Furcht vor menschlicher Gewalt, sondern einzig der göttliche Wille ist
der Grund dieses Pflichtgesetzes. Es gilt daher auch für die Mächtigen.
Jede Uebertretung derselben ist ein unerlaubter Miszbrauch der Gewalt
von dem gemeinsten Hausvater bis zu dem gröszten Potentaten hinauf,
eine Ungerechtigkeit oder eine Lieblosigkeit. Die Gerechtigkeit darf
man fordern von dem Starken wie von dem Schwachen, sobald man sie
selbst beobachtet, Liebe und Wohlwollen von dem bessern Theil des
menschlichen Herzens erwarten. Gegen den möglichen Miszbrauch der
höchsten Gewalt gibt es keine Hülfe durch menschliche Einrichtungen.
Es gibt über die höchste Gewalt keinen menschlichen Richter. „Es
gibt nirgends Hülfe als bei Gott.“ „Der Glaube an Gott,“ wie Plutarch
sagt, „ist das Band und der Kitt aller menschlichen Gesellschaft und
die Stütze der Gerechtigkeit.“ Die Religion allein vermag die Macht in
ihren Schranken zu halten und die Schwachen zu stärken.“

Wir haben die Grundzüge der Haller'schen Doctrin mit ihren eigenen
Worten wiedergegeben. Dabei fällt es freilich auf, dasz er das Recht
und den Stat nicht aus der Gerechtigkeit, sondern aus der Macht
ableitet, und jene nur als die Schranke dieser erfaszt. Die Macht
gibt nach ihm Recht und nur die Macht gibt Recht; je gröszer die
Macht, desto höher das Recht, während in Wahrheit die Macht für sich
allein nur ein thatsächliches, nicht ein Rechtsverhältnisz bildet. Dieser
Zug geht aber durch das ganze System durch. Die Ehrfurcht vor der
realen Macht, wie sie sich in den natürlichen Verhältnissen äuszerlich
sichtbar darstellt, wie sie historisch geworden ist, verschlieszt ihm öfter
die Einsicht in den ideal-sittlichen Charakter des Rechts und in das

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0358" n="340"/><fw place="top" type="header">Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.</fw><lb/><hi rendition="#g">tigere herrsche</hi>,&#x201C; und erkennt in der <hi rendition="#g">Ueberlegenheit</hi> des einen<lb/>
und in dem <hi rendition="#g">Bedürfnisz</hi> des andern den Grund aller Herrschaft und<lb/>
aller Abhängigkeit. Er nennt dasselbe eine ewige, unabänderliche Ord-<lb/>
nung Gottes. Schon diese Hinweisung zeigt, dasz ihm Macht nicht<lb/>
gleichbedeutend mit Gewalt ist, und er führt den Gegensatz näher aus. &#x2014;<lb/>
&#x201E;Jene wird beschränkt durch die <hi rendition="#g">Pflicht</hi>. Durch das moralische Pflicht-<lb/>
gesetz, welches Gott in die Herzen der Menschen geschrieben, welches<lb/>
sich in dem Gewissen der Kinder schon kund gibt, und in allen Zeiten<lb/>
unter allen Völkern offenbar wurde: &#x201E;Meide Böses und thue Gutes,&#x201C;<lb/>
und: &#x201E;Beleidige niemand und lasz jedem das Seine;&#x201C; durch das Gesetz<lb/>
der &#x201E;Gerechtigkeit&#x201C; und das Gesetz der &#x201E;Liebe&#x201C; wird dafür gesorgt,<lb/>
dasz die Macht (potentia) nicht in schädliche Gewalt (vis) ausarte.<lb/>
Diese beiden Gesetze sind von Gott dem Menschen eingepflanzt, sie sind<lb/>
diesem anerboren. Sie sind allgemein und nothwendig, ewig und unab-<lb/>
änderlich. Sie sind jedem verständlich, und die obersten und höchsten,<lb/>
denen alle andern menschlichen Gesetze sich unterordnen müssen, von<lb/>
denen niemand zu dispensiren befugt ist. Sie sind auch die mildesten<lb/>
und freundlichsten, ihr Joch ist sanft und ihre Last ist leicht. Nicht<lb/>
der allgemeine Volkswille, nicht das allgemeine Wohl, auch nicht die<lb/>
Furcht vor menschlicher Gewalt, sondern einzig der göttliche Wille ist<lb/>
der Grund dieses Pflichtgesetzes. Es gilt daher auch für die Mächtigen.<lb/>
Jede Uebertretung derselben ist ein unerlaubter Miszbrauch der Gewalt<lb/>
von dem gemeinsten Hausvater bis zu dem gröszten Potentaten hinauf,<lb/>
eine Ungerechtigkeit oder eine Lieblosigkeit. Die Gerechtigkeit darf<lb/>
man fordern von dem Starken wie von dem Schwachen, sobald man sie<lb/>
selbst beobachtet, Liebe und Wohlwollen von dem bessern Theil des<lb/>
menschlichen Herzens erwarten. Gegen den möglichen Miszbrauch der<lb/>
höchsten Gewalt gibt es keine Hülfe durch menschliche Einrichtungen.<lb/>
Es gibt über die höchste Gewalt keinen menschlichen Richter. &#x201E;Es<lb/>
gibt nirgends Hülfe als bei Gott.&#x201C; &#x201E;Der Glaube an Gott,&#x201C; wie <hi rendition="#g">Plutarch</hi><lb/>
sagt, &#x201E;ist das Band und der Kitt aller menschlichen Gesellschaft und<lb/>
die Stütze der Gerechtigkeit.&#x201C; Die Religion allein vermag die Macht in<lb/>
ihren Schranken zu halten und die Schwachen zu stärken.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Wir haben die Grundzüge der Haller'schen Doctrin mit ihren eigenen<lb/>
Worten wiedergegeben. Dabei fällt es freilich auf, dasz er das Recht<lb/>
und den Stat nicht aus der <hi rendition="#g">Gerechtigkeit</hi>, sondern aus der <hi rendition="#g">Macht</hi><lb/>
ableitet, und jene nur als die <hi rendition="#g">Schranke dieser</hi> erfaszt. Die Macht<lb/>
gibt nach ihm Recht und nur die Macht gibt Recht; je gröszer die<lb/>
Macht, desto höher das Recht, während in Wahrheit die Macht für sich<lb/>
allein nur ein thatsächliches, nicht ein Rechtsverhältnisz bildet. Dieser<lb/>
Zug geht aber durch das ganze System durch. Die Ehrfurcht vor der<lb/><hi rendition="#g">realen Macht</hi>, wie sie sich in den natürlichen Verhältnissen äuszerlich<lb/>
sichtbar darstellt, wie sie historisch geworden ist, verschlieszt ihm öfter<lb/>
die Einsicht in den ideal-sittlichen Charakter des Rechts und in das<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[340/0358] Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States. tigere herrsche,“ und erkennt in der Ueberlegenheit des einen und in dem Bedürfnisz des andern den Grund aller Herrschaft und aller Abhängigkeit. Er nennt dasselbe eine ewige, unabänderliche Ord- nung Gottes. Schon diese Hinweisung zeigt, dasz ihm Macht nicht gleichbedeutend mit Gewalt ist, und er führt den Gegensatz näher aus. — „Jene wird beschränkt durch die Pflicht. Durch das moralische Pflicht- gesetz, welches Gott in die Herzen der Menschen geschrieben, welches sich in dem Gewissen der Kinder schon kund gibt, und in allen Zeiten unter allen Völkern offenbar wurde: „Meide Böses und thue Gutes,“ und: „Beleidige niemand und lasz jedem das Seine;“ durch das Gesetz der „Gerechtigkeit“ und das Gesetz der „Liebe“ wird dafür gesorgt, dasz die Macht (potentia) nicht in schädliche Gewalt (vis) ausarte. Diese beiden Gesetze sind von Gott dem Menschen eingepflanzt, sie sind diesem anerboren. Sie sind allgemein und nothwendig, ewig und unab- änderlich. Sie sind jedem verständlich, und die obersten und höchsten, denen alle andern menschlichen Gesetze sich unterordnen müssen, von denen niemand zu dispensiren befugt ist. Sie sind auch die mildesten und freundlichsten, ihr Joch ist sanft und ihre Last ist leicht. Nicht der allgemeine Volkswille, nicht das allgemeine Wohl, auch nicht die Furcht vor menschlicher Gewalt, sondern einzig der göttliche Wille ist der Grund dieses Pflichtgesetzes. Es gilt daher auch für die Mächtigen. Jede Uebertretung derselben ist ein unerlaubter Miszbrauch der Gewalt von dem gemeinsten Hausvater bis zu dem gröszten Potentaten hinauf, eine Ungerechtigkeit oder eine Lieblosigkeit. Die Gerechtigkeit darf man fordern von dem Starken wie von dem Schwachen, sobald man sie selbst beobachtet, Liebe und Wohlwollen von dem bessern Theil des menschlichen Herzens erwarten. Gegen den möglichen Miszbrauch der höchsten Gewalt gibt es keine Hülfe durch menschliche Einrichtungen. Es gibt über die höchste Gewalt keinen menschlichen Richter. „Es gibt nirgends Hülfe als bei Gott.“ „Der Glaube an Gott,“ wie Plutarch sagt, „ist das Band und der Kitt aller menschlichen Gesellschaft und die Stütze der Gerechtigkeit.“ Die Religion allein vermag die Macht in ihren Schranken zu halten und die Schwachen zu stärken.“ Wir haben die Grundzüge der Haller'schen Doctrin mit ihren eigenen Worten wiedergegeben. Dabei fällt es freilich auf, dasz er das Recht und den Stat nicht aus der Gerechtigkeit, sondern aus der Macht ableitet, und jene nur als die Schranke dieser erfaszt. Die Macht gibt nach ihm Recht und nur die Macht gibt Recht; je gröszer die Macht, desto höher das Recht, während in Wahrheit die Macht für sich allein nur ein thatsächliches, nicht ein Rechtsverhältnisz bildet. Dieser Zug geht aber durch das ganze System durch. Die Ehrfurcht vor der realen Macht, wie sie sich in den natürlichen Verhältnissen äuszerlich sichtbar darstellt, wie sie historisch geworden ist, verschlieszt ihm öfter die Einsicht in den ideal-sittlichen Charakter des Rechts und in das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/358
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/358>, abgerufen am 19.04.2024.