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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Erstes Cap. Ist der Stat Zweck oder Mittel? Inwiefern Zweck und Mittel?
würde so in seinem Wesen zerstört und das Statsrecht hätte
nur einen Sinn, als eine Vorbedingung des Privatrechts.
Wenn unter allen männlichen Völkern Hunderttausende von
Menschen in irgend einer Gefahr und Noth des Stats willig
schwere Lasten auf sich nehmen und sogar die Ruhe ihrer
Familien und ihr Leben für den Stat in Gefahr bringen, so
ist diese Opferwilligkeit doch nur aus der Annahme zu er-
klären, dasz diese Männer die Sicherheit, die Wohlfahrt ihres
Volkes und States höher schätzen als die eigene. Die Grosz-
thaten der Helden aller Zeiten wären eitle Thorheit und
Schwärmerei, wenn der Stat nur ein Mittel wäre, um den
Einzelmenschen zu dienen, wenn nicht das Gesammtleben
des Volkes einen höheren Werth hätte als das Leben vieler
Einzelmenschen. In den groszen Gefahren und Krisen des
Völkerlebens wird es den Menschen klar, dasz der Stat etwas
Besseres und Höheres sei als eine wechselseitige Versicherungs-
gesellschaft. Die entzündete Liebe zum Vaterland schmilzt
dann die spröde Selbstsucht der Einzelnen und das wachge-
wordene Gefühl der Pflicht gegen den Stat durchdringt dann
und erhebt auch die Massen.

Wie das Volk etwas anderes ist als die Summe der zum
Stat gehörigen Privatpersonen, so ist auch die Volkswohl-
fahrt
nicht gleichbedeutend mit der Summe der jeweiligen
Privatwohlfahrt. Wohl besteht zwischen der Wohlfahrt
des Stats
und der Wohlfahrt der Privaten eine nahe
Verwandschaft und eine enge Wechselbeziehung. Sie steigen
und fallen beide meistens gleichzeitig. Wenn die Privatwohl-
fahrt der Menge krankt und schwach ist, dann leidet ge-
wöhnlich auch die Statswohlfahrt an schweren Uebeln. Aber
nicht immer gehen die Linien und Richtungen beider Arten
der Wohlfahrt parallel. Zuweilen durchkreuzen sie sich oder
entfernen sie sich von einander. Von Zeit zu Zeit ist der
Stat genöthigt, zu seiner Rettung, oder im Interesse der
künftigen Geschlechter harte Zumuthungen an die gegen-

Erstes Cap. Ist der Stat Zweck oder Mittel? Inwiefern Zweck und Mittel?
würde so in seinem Wesen zerstört und das Statsrecht hätte
nur einen Sinn, als eine Vorbedingung des Privatrechts.
Wenn unter allen männlichen Völkern Hunderttausende von
Menschen in irgend einer Gefahr und Noth des Stats willig
schwere Lasten auf sich nehmen und sogar die Ruhe ihrer
Familien und ihr Leben für den Stat in Gefahr bringen, so
ist diese Opferwilligkeit doch nur aus der Annahme zu er-
klären, dasz diese Männer die Sicherheit, die Wohlfahrt ihres
Volkes und States höher schätzen als die eigene. Die Grosz-
thaten der Helden aller Zeiten wären eitle Thorheit und
Schwärmerei, wenn der Stat nur ein Mittel wäre, um den
Einzelmenschen zu dienen, wenn nicht das Gesammtleben
des Volkes einen höheren Werth hätte als das Leben vieler
Einzelmenschen. In den groszen Gefahren und Krisen des
Völkerlebens wird es den Menschen klar, dasz der Stat etwas
Besseres und Höheres sei als eine wechselseitige Versicherungs-
gesellschaft. Die entzündete Liebe zum Vaterland schmilzt
dann die spröde Selbstsucht der Einzelnen und das wachge-
wordene Gefühl der Pflicht gegen den Stat durchdringt dann
und erhebt auch die Massen.

Wie das Volk etwas anderes ist als die Summe der zum
Stat gehörigen Privatpersonen, so ist auch die Volkswohl-
fahrt
nicht gleichbedeutend mit der Summe der jeweiligen
Privatwohlfahrt. Wohl besteht zwischen der Wohlfahrt
des Stats
und der Wohlfahrt der Privaten eine nahe
Verwandschaft und eine enge Wechselbeziehung. Sie steigen
und fallen beide meistens gleichzeitig. Wenn die Privatwohl-
fahrt der Menge krankt und schwach ist, dann leidet ge-
wöhnlich auch die Statswohlfahrt an schweren Uebeln. Aber
nicht immer gehen die Linien und Richtungen beider Arten
der Wohlfahrt parallel. Zuweilen durchkreuzen sie sich oder
entfernen sie sich von einander. Von Zeit zu Zeit ist der
Stat genöthigt, zu seiner Rettung, oder im Interesse der
künftigen Geschlechter harte Zumuthungen an die gegen-

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[349/0367] Erstes Cap. Ist der Stat Zweck oder Mittel? Inwiefern Zweck und Mittel? würde so in seinem Wesen zerstört und das Statsrecht hätte nur einen Sinn, als eine Vorbedingung des Privatrechts. Wenn unter allen männlichen Völkern Hunderttausende von Menschen in irgend einer Gefahr und Noth des Stats willig schwere Lasten auf sich nehmen und sogar die Ruhe ihrer Familien und ihr Leben für den Stat in Gefahr bringen, so ist diese Opferwilligkeit doch nur aus der Annahme zu er- klären, dasz diese Männer die Sicherheit, die Wohlfahrt ihres Volkes und States höher schätzen als die eigene. Die Grosz- thaten der Helden aller Zeiten wären eitle Thorheit und Schwärmerei, wenn der Stat nur ein Mittel wäre, um den Einzelmenschen zu dienen, wenn nicht das Gesammtleben des Volkes einen höheren Werth hätte als das Leben vieler Einzelmenschen. In den groszen Gefahren und Krisen des Völkerlebens wird es den Menschen klar, dasz der Stat etwas Besseres und Höheres sei als eine wechselseitige Versicherungs- gesellschaft. Die entzündete Liebe zum Vaterland schmilzt dann die spröde Selbstsucht der Einzelnen und das wachge- wordene Gefühl der Pflicht gegen den Stat durchdringt dann und erhebt auch die Massen. Wie das Volk etwas anderes ist als die Summe der zum Stat gehörigen Privatpersonen, so ist auch die Volkswohl- fahrt nicht gleichbedeutend mit der Summe der jeweiligen Privatwohlfahrt. Wohl besteht zwischen der Wohlfahrt des Stats und der Wohlfahrt der Privaten eine nahe Verwandschaft und eine enge Wechselbeziehung. Sie steigen und fallen beide meistens gleichzeitig. Wenn die Privatwohl- fahrt der Menge krankt und schwach ist, dann leidet ge- wöhnlich auch die Statswohlfahrt an schweren Uebeln. Aber nicht immer gehen die Linien und Richtungen beider Arten der Wohlfahrt parallel. Zuweilen durchkreuzen sie sich oder entfernen sie sich von einander. Von Zeit zu Zeit ist der Stat genöthigt, zu seiner Rettung, oder im Interesse der künftigen Geschlechter harte Zumuthungen an die gegen-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/367>, abgerufen am 24.04.2024.