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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Drittes Cap. Ungenügende oder übertriebene Bestimmungen des Statszwecks.
regiererei erfolgreich entgegen zu treten und nannte den so
begrenzten Stat "Rechtsstat" im Gegensatz zu dem ver-
haszten "Polizeistat."

Indessen befriedigte diese Einengung des Statslebens
durch den beschränkten Statszweck weder die Instincte noch
die Bedürfnisse der modernen Völker. Niemand zweifelte
daran, dasz die Erhaltung und Wahrung der Rechtssicherheit
mit zu den Aufgaben des States gehöre. Aber kein modernes
Volk und keine Statsregierung konnten ihre politische Thätig-
keit auf diesen engen Bereich beschränken lassen. Die Haupt-
vertreter jener Meinung wurden selber durch ihre Lebens-
erfahrungen veranlaszt, jene Schranken zu durchbrechen und
nach höheren Zielen der Politik zu streben. Fichte, der
anfangs gemeint hatte, "Schutz des Eigenthums" sei der
Hauptzweck des States, erhob sich im Kampf wider die Na-
poleonische Universalmonarchie, welche das Eigenthum und
den Erwerb willig schützte, zu der Idee eines nationalen
Volksstats, der dem Volksgeiste zum Organ diene. Wilhelm
von Humboldt arbeitete als preuszischer Minister für die gei-
stige Erhebung des preuszischen Volkes durch Statsschulen,
die er vorher in seiner Theorie verworfen hatte und für die
Machtentfaltung des preuszischen Stats, die für die Civil- und
Strafrechtspflege schon vorher vollkommen genügt hatte.

In der That, jene Hinweisung auf die Rechtssicherheit
erschöpft den Zweck des Stats nicht, und am wenigsten den
Zweck des civilisirten modernen Stats. Sie würde eher den
mittelalterlichen an das Privatrecht gebundenen Ansichten als
den Bedürfnissen der heutigen Culturvölker zusagen.

In dem Volk wirkt nicht blosz der Rechtssinn. Es be-
darf schon eine Menge wirthschaftlicher Anstalten,
die mit der Rechtssicherheit nichts zu schaffen haben, der
Straszen, der Canäle, der Eisenbahnen, der Posten und Tele-
graphen für den gesellschaftlichen Verkehr. Nur der Stat
kann dieses Bedürfnisz befriedigen und er dürfte es nicht,

Drittes Cap. Ungenügende oder übertriebene Bestimmungen des Statszwecks.
regiererei erfolgreich entgegen zu treten und nannte den so
begrenzten Stat „Rechtsstat“ im Gegensatz zu dem ver-
haszten „Polizeistat.“

Indessen befriedigte diese Einengung des Statslebens
durch den beschränkten Statszweck weder die Instincte noch
die Bedürfnisse der modernen Völker. Niemand zweifelte
daran, dasz die Erhaltung und Wahrung der Rechtssicherheit
mit zu den Aufgaben des States gehöre. Aber kein modernes
Volk und keine Statsregierung konnten ihre politische Thätig-
keit auf diesen engen Bereich beschränken lassen. Die Haupt-
vertreter jener Meinung wurden selber durch ihre Lebens-
erfahrungen veranlaszt, jene Schranken zu durchbrechen und
nach höheren Zielen der Politik zu streben. Fichte, der
anfangs gemeint hatte, „Schutz des Eigenthums“ sei der
Hauptzweck des States, erhob sich im Kampf wider die Na-
poleonische Universalmonarchie, welche das Eigenthum und
den Erwerb willig schützte, zu der Idee eines nationalen
Volksstats, der dem Volksgeiste zum Organ diene. Wilhelm
von Humboldt arbeitete als preuszischer Minister für die gei-
stige Erhebung des preuszischen Volkes durch Statsschulen,
die er vorher in seiner Theorie verworfen hatte und für die
Machtentfaltung des preuszischen Stats, die für die Civil- und
Strafrechtspflege schon vorher vollkommen genügt hatte.

In der That, jene Hinweisung auf die Rechtssicherheit
erschöpft den Zweck des Stats nicht, und am wenigsten den
Zweck des civilisirten modernen Stats. Sie würde eher den
mittelalterlichen an das Privatrecht gebundenen Ansichten als
den Bedürfnissen der heutigen Culturvölker zusagen.

In dem Volk wirkt nicht blosz der Rechtssinn. Es be-
darf schon eine Menge wirthschaftlicher Anstalten,
die mit der Rechtssicherheit nichts zu schaffen haben, der
Straszen, der Canäle, der Eisenbahnen, der Posten und Tele-
graphen für den gesellschaftlichen Verkehr. Nur der Stat
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[355/0373] Drittes Cap. Ungenügende oder übertriebene Bestimmungen des Statszwecks. regiererei erfolgreich entgegen zu treten und nannte den so begrenzten Stat „Rechtsstat“ im Gegensatz zu dem ver- haszten „Polizeistat.“ Indessen befriedigte diese Einengung des Statslebens durch den beschränkten Statszweck weder die Instincte noch die Bedürfnisse der modernen Völker. Niemand zweifelte daran, dasz die Erhaltung und Wahrung der Rechtssicherheit mit zu den Aufgaben des States gehöre. Aber kein modernes Volk und keine Statsregierung konnten ihre politische Thätig- keit auf diesen engen Bereich beschränken lassen. Die Haupt- vertreter jener Meinung wurden selber durch ihre Lebens- erfahrungen veranlaszt, jene Schranken zu durchbrechen und nach höheren Zielen der Politik zu streben. Fichte, der anfangs gemeint hatte, „Schutz des Eigenthums“ sei der Hauptzweck des States, erhob sich im Kampf wider die Na- poleonische Universalmonarchie, welche das Eigenthum und den Erwerb willig schützte, zu der Idee eines nationalen Volksstats, der dem Volksgeiste zum Organ diene. Wilhelm von Humboldt arbeitete als preuszischer Minister für die gei- stige Erhebung des preuszischen Volkes durch Statsschulen, die er vorher in seiner Theorie verworfen hatte und für die Machtentfaltung des preuszischen Stats, die für die Civil- und Strafrechtspflege schon vorher vollkommen genügt hatte. In der That, jene Hinweisung auf die Rechtssicherheit erschöpft den Zweck des Stats nicht, und am wenigsten den Zweck des civilisirten modernen Stats. Sie würde eher den mittelalterlichen an das Privatrecht gebundenen Ansichten als den Bedürfnissen der heutigen Culturvölker zusagen. In dem Volk wirkt nicht blosz der Rechtssinn. Es be- darf schon eine Menge wirthschaftlicher Anstalten, die mit der Rechtssicherheit nichts zu schaffen haben, der Straszen, der Canäle, der Eisenbahnen, der Posten und Tele- graphen für den gesellschaftlichen Verkehr. Nur der Stat kann dieses Bedürfnisz befriedigen und er dürfte es nicht,

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/373>, abgerufen am 28.03.2024.