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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Capitel. Der sogenannte gemischte Stat.

Versteht man unter dem gemischten State nur eine Er-
mäszigung oder Beschränkung der Monarchie, oder Aristokratie,
oder Demokratie durch andere statliche Potenzen, z. B. die
Beschränkung der Monarchie durch Beiordnung eines aristokra-
tischen Senates oder Oberhauses und einer demokratischen
Volksversammlung oder Volksvertretung, so ist es wahr, dasz
so mannichfaltig gegliederte Statsverfassungen besser sind als
solche, in welchen die Herrschaft eines oder einiger oder der
Menge einseitig und schrankenlos waltet. Aber dann ist durch
solche Mischung keine neue Gattung von Staten entstanden;
denn immerhin ist die oberste Regierungsmacht in der Hand
des Monarchen oder der Aristokratie oder des Volkes con-
centrirt.

Versteht man dagegen die Mischung so, dasz die oberste
Regierungsgewalt selbst getheilt sei, zwischen dem Monar-
chen, der Aristokratie und dem Volk, so dasz zwei oder meh-
rere oberste Gewalten neben einander bestehen, jede von der
andern unahhängig, jede in einem gewissen Kreise als die
oberste anerkannt, dann hat Tacitus Recht, welcher den Ge-
danken des gemischten States verwirft, und behauptet, ein so
gemischter Stat komme in Wirklichkeit nicht vor oder sei
mindestens nicht von Dauer. 2

Neuere haben zwar gemeint, England sei ein solcher Stat,
in welchem die Herrschaft unter drei oberste Mächte getheilt
sei, den König, das Oberhaus und das Unterhaus, und eben
darauf beruhe die Vollkommenheit der englischen Verfassung,
dasz sie das Ideal dieser vierten gemischten Statsform ver-

moderatum et permixtum tribus," und I. 45: "Placet enim, esse quiddam
in republica praestans et regale, esse aliud auctoritati principum parti-
tum ac tributum, esse quasdam res servatas judicio voluntatique multi-
tudinis."
2 Tacitus Annal. IV. 33: "Cunctas nationes et urbes populus aut
primores aut singuli regunt: delecta ex his et consociata reipublicae
forma laudari facilius quam evenire; vel si evenit, haud diuturna esse
potest."
Zweites Capitel. Der sogenannte gemischte Stat.

Versteht man unter dem gemischten State nur eine Er-
mäszigung oder Beschränkung der Monarchie, oder Aristokratie,
oder Demokratie durch andere statliche Potenzen, z. B. die
Beschränkung der Monarchie durch Beiordnung eines aristokra-
tischen Senates oder Oberhauses und einer demokratischen
Volksversammlung oder Volksvertretung, so ist es wahr, dasz
so mannichfaltig gegliederte Statsverfassungen besser sind als
solche, in welchen die Herrschaft eines oder einiger oder der
Menge einseitig und schrankenlos waltet. Aber dann ist durch
solche Mischung keine neue Gattung von Staten entstanden;
denn immerhin ist die oberste Regierungsmacht in der Hand
des Monarchen oder der Aristokratie oder des Volkes con-
centrirt.

Versteht man dagegen die Mischung so, dasz die oberste
Regierungsgewalt selbst getheilt sei, zwischen dem Monar-
chen, der Aristokratie und dem Volk, so dasz zwei oder meh-
rere oberste Gewalten neben einander bestehen, jede von der
andern unahhängig, jede in einem gewissen Kreise als die
oberste anerkannt, dann hat Tacitus Recht, welcher den Ge-
danken des gemischten States verwirft, und behauptet, ein so
gemischter Stat komme in Wirklichkeit nicht vor oder sei
mindestens nicht von Dauer. 2

Neuere haben zwar gemeint, England sei ein solcher Stat,
in welchem die Herrschaft unter drei oberste Mächte getheilt
sei, den König, das Oberhaus und das Unterhaus, und eben
darauf beruhe die Vollkommenheit der englischen Verfassung,
dasz sie das Ideal dieser vierten gemischten Statsform ver-

moderatum et permixtum tribus,“ und I. 45: „Placet enim, esse quiddam
in republica praestans et regale, esse aliud auctoritati principum parti-
tum ac tributum, esse quasdam res servatas judicio voluntatique multi-
tudinis.“
2 Tacitus Annal. IV. 33: „Cunctas nationes et urbes populus aut
primores aut singuli regunt: delecta ex his et consociata reipublicae
forma laudari facilius quam evenire; vel si evenit, haud diuturna esse
potest.“
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[373/0391] Zweites Capitel. Der sogenannte gemischte Stat. Versteht man unter dem gemischten State nur eine Er- mäszigung oder Beschränkung der Monarchie, oder Aristokratie, oder Demokratie durch andere statliche Potenzen, z. B. die Beschränkung der Monarchie durch Beiordnung eines aristokra- tischen Senates oder Oberhauses und einer demokratischen Volksversammlung oder Volksvertretung, so ist es wahr, dasz so mannichfaltig gegliederte Statsverfassungen besser sind als solche, in welchen die Herrschaft eines oder einiger oder der Menge einseitig und schrankenlos waltet. Aber dann ist durch solche Mischung keine neue Gattung von Staten entstanden; denn immerhin ist die oberste Regierungsmacht in der Hand des Monarchen oder der Aristokratie oder des Volkes con- centrirt. Versteht man dagegen die Mischung so, dasz die oberste Regierungsgewalt selbst getheilt sei, zwischen dem Monar- chen, der Aristokratie und dem Volk, so dasz zwei oder meh- rere oberste Gewalten neben einander bestehen, jede von der andern unahhängig, jede in einem gewissen Kreise als die oberste anerkannt, dann hat Tacitus Recht, welcher den Ge- danken des gemischten States verwirft, und behauptet, ein so gemischter Stat komme in Wirklichkeit nicht vor oder sei mindestens nicht von Dauer. 2 Neuere haben zwar gemeint, England sei ein solcher Stat, in welchem die Herrschaft unter drei oberste Mächte getheilt sei, den König, das Oberhaus und das Unterhaus, und eben darauf beruhe die Vollkommenheit der englischen Verfassung, dasz sie das Ideal dieser vierten gemischten Statsform ver- 1 2 Tacitus Annal. IV. 33: „Cunctas nationes et urbes populus aut primores aut singuli regunt: delecta ex his et consociata reipublicae forma laudari facilius quam evenire; vel si evenit, haud diuturna esse potest.“ 1 moderatum et permixtum tribus,“ und I. 45: „Placet enim, esse quiddam in republica praestans et regale, esse aliud auctoritati principum parti- tum ac tributum, esse quasdam res servatas judicio voluntatique multi- tudinis.“

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/391>, abgerufen am 29.03.2024.