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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Neunzehntes Cap. III. Die Aristokratie. Bemerkungen über die Aristokratie.
Besten (oi aristoi) regieren. 1 Artet die herrschende Classe
aus, gehen die vorzüglichen Eigenschaften, durch welche sie
sich emporgehoben, unter, verdirbt ihr Charakter, wird ihr
Geist schwach und eitel, so geht die Aristokratie unaufhaltsam
unter, weil die belebende Seele ihres Wesens abstirbt. Aber
ebenso geht sie zu Grunde, wenn zwar in ihr die hervor-
ragenden Eigenschaften noch fortdauern; aber in den regierten
Classen ähnliche Auszeichnung aufblüht und die hergebrachte
Aristokratie es versäumt und verschmäht, diese in sich auf-
zunehmen und dadurch ihre Kräfte zu ergänzen und zu steigern.
Das vorzüglich hat die römische Aristokratie so grosz gemacht,
das auch den Einflusz und das Ansehen der englischen er-
halten, dasz sie so in lebendigem Zusammenhang mit dem
übrigen Volksleben verblieben sind und fortwährend neue Säfte
aus diesem aufgesogen haben.

In der Abgeschlossenheit liegt ein Hauptgebrechen
vieler Aristokraten. Im Bestreben, die auf Vorzüge gegrün-
deten Vorrechte zu befestigen, haben sie oft die Rücksicht
auf die Vorzüge selbst auszer Acht gesetzt, und die Vorrechte
äuszerlich gewiszermaszen mit Wällen und Gräben zu sichern
und erbrechtlich fortzusetzen gesucht. In kleinen Verhält-
nissen liesz sich so eine Zeit lang die Herrschaft behaupten,
gröszern Verhältnissen aber war die so beschränkte Aristo-
kratie nicht mehr gewachsen. Sparta und Venedig wurden
schwach, als sie grosze Eroberungen gemacht hatten. Sowohl
die Spartiaten als die Altbürger von Venedig, die Nobili,
waren für sich allein nicht zahlreich und nicht stark genug,

1 Viel richtiger als Montesquieu, welcher die Tugend als Princip
der Demokratie erklärt, hat Aristoteles gesagt (Polit. IV. 6, 4): "Der
Charakter der Aristokratie ist Tugend, der der Demokratie Freiheit."
Aber die geschichtliche Realität entspricht wenig dem philosophischen
Ideal. De Parieu (Polit. S. 36.): "L'aristocratie a toujours en fait,
designe le gouvernement des plus puissants plutot que celui des plus
vertueux." In dem Buche von Parieu finden sich viele vortreffliche Be-
merkungen über die Aristokratie.

Neunzehntes Cap. III. Die Aristokratie. Bemerkungen über die Aristokratie.
Besten (οἱ ἄϱιστοι) regieren. 1 Artet die herrschende Classe
aus, gehen die vorzüglichen Eigenschaften, durch welche sie
sich emporgehoben, unter, verdirbt ihr Charakter, wird ihr
Geist schwach und eitel, so geht die Aristokratie unaufhaltsam
unter, weil die belebende Seele ihres Wesens abstirbt. Aber
ebenso geht sie zu Grunde, wenn zwar in ihr die hervor-
ragenden Eigenschaften noch fortdauern; aber in den regierten
Classen ähnliche Auszeichnung aufblüht und die hergebrachte
Aristokratie es versäumt und verschmäht, diese in sich auf-
zunehmen und dadurch ihre Kräfte zu ergänzen und zu steigern.
Das vorzüglich hat die römische Aristokratie so grosz gemacht,
das auch den Einflusz und das Ansehen der englischen er-
halten, dasz sie so in lebendigem Zusammenhang mit dem
übrigen Volksleben verblieben sind und fortwährend neue Säfte
aus diesem aufgesogen haben.

In der Abgeschlossenheit liegt ein Hauptgebrechen
vieler Aristokraten. Im Bestreben, die auf Vorzüge gegrün-
deten Vorrechte zu befestigen, haben sie oft die Rücksicht
auf die Vorzüge selbst auszer Acht gesetzt, und die Vorrechte
äuszerlich gewiszermaszen mit Wällen und Gräben zu sichern
und erbrechtlich fortzusetzen gesucht. In kleinen Verhält-
nissen liesz sich so eine Zeit lang die Herrschaft behaupten,
gröszern Verhältnissen aber war die so beschränkte Aristo-
kratie nicht mehr gewachsen. Sparta und Venedig wurden
schwach, als sie grosze Eroberungen gemacht hatten. Sowohl
die Spartiaten als die Altbürger von Venedig, die Nobili,
waren für sich allein nicht zahlreich und nicht stark genug,

1 Viel richtiger als Montesquieu, welcher die Tugend als Princip
der Demokratie erklärt, hat Aristoteles gesagt (Polit. IV. 6, 4): „Der
Charakter der Aristokratie ist Tugend, der der Demokratie Freiheit.“
Aber die geschichtliche Realität entspricht wenig dem philosophischen
Ideal. De Parieu (Polit. S. 36.): „L'aristocratie a toujours en fait,
désigné le gouvernement des plus puissants plutôt que celui des plus
vertueux.“ In dem Buche von Parieu finden sich viele vortreffliche Be-
merkungen über die Aristokratie.
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[517/0535] Neunzehntes Cap. III. Die Aristokratie. Bemerkungen über die Aristokratie. Besten (οἱ ἄϱιστοι) regieren. 1 Artet die herrschende Classe aus, gehen die vorzüglichen Eigenschaften, durch welche sie sich emporgehoben, unter, verdirbt ihr Charakter, wird ihr Geist schwach und eitel, so geht die Aristokratie unaufhaltsam unter, weil die belebende Seele ihres Wesens abstirbt. Aber ebenso geht sie zu Grunde, wenn zwar in ihr die hervor- ragenden Eigenschaften noch fortdauern; aber in den regierten Classen ähnliche Auszeichnung aufblüht und die hergebrachte Aristokratie es versäumt und verschmäht, diese in sich auf- zunehmen und dadurch ihre Kräfte zu ergänzen und zu steigern. Das vorzüglich hat die römische Aristokratie so grosz gemacht, das auch den Einflusz und das Ansehen der englischen er- halten, dasz sie so in lebendigem Zusammenhang mit dem übrigen Volksleben verblieben sind und fortwährend neue Säfte aus diesem aufgesogen haben. In der Abgeschlossenheit liegt ein Hauptgebrechen vieler Aristokraten. Im Bestreben, die auf Vorzüge gegrün- deten Vorrechte zu befestigen, haben sie oft die Rücksicht auf die Vorzüge selbst auszer Acht gesetzt, und die Vorrechte äuszerlich gewiszermaszen mit Wällen und Gräben zu sichern und erbrechtlich fortzusetzen gesucht. In kleinen Verhält- nissen liesz sich so eine Zeit lang die Herrschaft behaupten, gröszern Verhältnissen aber war die so beschränkte Aristo- kratie nicht mehr gewachsen. Sparta und Venedig wurden schwach, als sie grosze Eroberungen gemacht hatten. Sowohl die Spartiaten als die Altbürger von Venedig, die Nobili, waren für sich allein nicht zahlreich und nicht stark genug, 1 Viel richtiger als Montesquieu, welcher die Tugend als Princip der Demokratie erklärt, hat Aristoteles gesagt (Polit. IV. 6, 4): „Der Charakter der Aristokratie ist Tugend, der der Demokratie Freiheit.“ Aber die geschichtliche Realität entspricht wenig dem philosophischen Ideal. De Parieu (Polit. S. 36.): „L'aristocratie a toujours en fait, désigné le gouvernement des plus puissants plutôt que celui des plus vertueux.“ In dem Buche von Parieu finden sich viele vortreffliche Be- merkungen über die Aristokratie.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 517. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/535>, abgerufen am 25.04.2024.