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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Buch. Die Statsformen.
letztern System huldigen die meisten schweizerischen Repu-
bliken, deren grosze Räthe die Regierung und das oberste
Gericht bestellen, und einige Einzelstaten Nordamerika's.
Nach dem ersteren System ist die Regierungsgewalt offenbar
selbständiger und mächtiger, zumal im Verhältnisz zu dem
gesetzgebenden Körper, weil die Vertreter derselben nicht
minder als dieser, in gewisser Beziehung sogar in höherem
Masze das persönliche Vertrauen des Volkes für sich haben;
nach dem letztern dagegen ist die Regierung abhängiger von
dem gesetzgebenden Körper, dem sie ihr Dasein zu verdanken
hat. Es läszt sich daher auch eher nach jenem als nach die-
sem eine wechselseitige Beschränkung je der einen Repräsen-
tation des Volkes durch die andere ausbilden.

7. Die Rechtspflege wird zwar wieder im Namen des
Volkes gehandhabt, die Richter aber, für welche besondere
wissenschaftliche Eigenschaften erfordert werden, werden in
der Regel nicht von dem Volke selbst, sondern entweder wie
in Nordamerika und in dem demokratischen Frankreich von
der Regierung oder wie in der Schweiz von den groszen
Räthen bezeichnet. Einen unmittelbaren Theil an der
Verwaltung der Rechtspflege nimmt das Volk in der Ge-
schwornenverfassung
, indem die Geschwornen aus der
Masse der Bürger durch wechselndes Loos bestellt werden.

8. Von besonderer Bedeutung ist in allen repräsentativen
Demokratien die Gemeindeverfassung. Sie bildet den
soliden Unterbau der ganzen Statsordnung. In den Gemeinden
werden die Bürger zur Theilnahme an den öffentlichen An-
gelegenheiten, zur Selbstverwaltung und zu bürgerlicher Frei-
heit erzogen. Da wird es auch -- wenigstens in kleineren
und vorzüglich in den Landgemeinden -- noch möglich, dasz die
Bürger zur Gemeindeversammlung zusammen treten. In den
gröszern vorzüglich den Stadtgemeinden tritt auch da eine
Repräsentation der Bürgerschaft an die Stelle der Gemeinde-
versammlung. Sowohl die schweizerischen als die nordame-

Sechstes Buch. Die Statsformen.
letztern System huldigen die meisten schweizerischen Repu-
bliken, deren grosze Räthe die Regierung und das oberste
Gericht bestellen, und einige Einzelstaten Nordamerika's.
Nach dem ersteren System ist die Regierungsgewalt offenbar
selbständiger und mächtiger, zumal im Verhältnisz zu dem
gesetzgebenden Körper, weil die Vertreter derselben nicht
minder als dieser, in gewisser Beziehung sogar in höherem
Masze das persönliche Vertrauen des Volkes für sich haben;
nach dem letztern dagegen ist die Regierung abhängiger von
dem gesetzgebenden Körper, dem sie ihr Dasein zu verdanken
hat. Es läszt sich daher auch eher nach jenem als nach die-
sem eine wechselseitige Beschränkung je der einen Repräsen-
tation des Volkes durch die andere ausbilden.

7. Die Rechtspflege wird zwar wieder im Namen des
Volkes gehandhabt, die Richter aber, für welche besondere
wissenschaftliche Eigenschaften erfordert werden, werden in
der Regel nicht von dem Volke selbst, sondern entweder wie
in Nordamerika und in dem demokratischen Frankreich von
der Regierung oder wie in der Schweiz von den groszen
Räthen bezeichnet. Einen unmittelbaren Theil an der
Verwaltung der Rechtspflege nimmt das Volk in der Ge-
schwornenverfassung
, indem die Geschwornen aus der
Masse der Bürger durch wechselndes Loos bestellt werden.

8. Von besonderer Bedeutung ist in allen repräsentativen
Demokratien die Gemeindeverfassung. Sie bildet den
soliden Unterbau der ganzen Statsordnung. In den Gemeinden
werden die Bürger zur Theilnahme an den öffentlichen An-
gelegenheiten, zur Selbstverwaltung und zu bürgerlicher Frei-
heit erzogen. Da wird es auch — wenigstens in kleineren
und vorzüglich in den Landgemeinden — noch möglich, dasz die
Bürger zur Gemeindeversammlung zusammen treten. In den
gröszern vorzüglich den Stadtgemeinden tritt auch da eine
Repräsentation der Bürgerschaft an die Stelle der Gemeinde-
versammlung. Sowohl die schweizerischen als die nordame-

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[548/0566] Sechstes Buch. Die Statsformen. letztern System huldigen die meisten schweizerischen Repu- bliken, deren grosze Räthe die Regierung und das oberste Gericht bestellen, und einige Einzelstaten Nordamerika's. Nach dem ersteren System ist die Regierungsgewalt offenbar selbständiger und mächtiger, zumal im Verhältnisz zu dem gesetzgebenden Körper, weil die Vertreter derselben nicht minder als dieser, in gewisser Beziehung sogar in höherem Masze das persönliche Vertrauen des Volkes für sich haben; nach dem letztern dagegen ist die Regierung abhängiger von dem gesetzgebenden Körper, dem sie ihr Dasein zu verdanken hat. Es läszt sich daher auch eher nach jenem als nach die- sem eine wechselseitige Beschränkung je der einen Repräsen- tation des Volkes durch die andere ausbilden. 7. Die Rechtspflege wird zwar wieder im Namen des Volkes gehandhabt, die Richter aber, für welche besondere wissenschaftliche Eigenschaften erfordert werden, werden in der Regel nicht von dem Volke selbst, sondern entweder wie in Nordamerika und in dem demokratischen Frankreich von der Regierung oder wie in der Schweiz von den groszen Räthen bezeichnet. Einen unmittelbaren Theil an der Verwaltung der Rechtspflege nimmt das Volk in der Ge- schwornenverfassung, indem die Geschwornen aus der Masse der Bürger durch wechselndes Loos bestellt werden. 8. Von besonderer Bedeutung ist in allen repräsentativen Demokratien die Gemeindeverfassung. Sie bildet den soliden Unterbau der ganzen Statsordnung. In den Gemeinden werden die Bürger zur Theilnahme an den öffentlichen An- gelegenheiten, zur Selbstverwaltung und zu bürgerlicher Frei- heit erzogen. Da wird es auch — wenigstens in kleineren und vorzüglich in den Landgemeinden — noch möglich, dasz die Bürger zur Gemeindeversammlung zusammen treten. In den gröszern vorzüglich den Stadtgemeinden tritt auch da eine Repräsentation der Bürgerschaft an die Stelle der Gemeinde- versammlung. Sowohl die schweizerischen als die nordame-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 548. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/566>, abgerufen am 25.04.2024.