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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Buch. Die Statsformen.
sollen in dessen Namen und Auftrag regieren. Die
grosze Schwierigkeit aber liegt darin, die Wahl so zu orga-
nisiren, dasz wirklich die Besten an Gesinnung und Einsicht
zu Repräsentanten der Volksherrschaft gewählt werden.

Man ist in unserer Zeit geneigt, diese Wahlen einfach
nach Maszgabe der Kopfzahl der Wahlen zu vertheilen.
Diese Neigung entspricht dem demokratischen Zuge der Zeit;
denn in der That die Demokratie legt auf die Gleichheit
Aller
einen entscheidenden Werth und gelangt daher in
ihren Einrichtungen leicht zu mathematischen Normen.
Sie zählt die gleichen Bürger, und nach ihrer Zahl sucht sie
ihnen gleiche Rechte beizulegen.

Indessen paszt dieses System der Kopfzahl offenbar besser
zu der unmittelbaren Demokratie, welche auch die Ausübung
der Herrschaft gleichmäszig über die ganze Bürgerschaft ver-
breitet, als zu der Repräsentativdemokratie, welche unter den
Bürgern nach ihrer höheren oder geringeren Würdigkeit un-
terscheidet und nur den Bessern die Verwaltung der öffent-
lichen Angelegenheiten anvertraut. Die letztere Statsform
nimmt auf die Qualität der Gewählten Rücksicht, und eben
darum ist es für sie nicht ebenso natürlich, bei der Verthei-
lung der Wahlkreise nur die Quantität in Anschlag zu
bringen. Ueberdem werden die Gebrechen dieses Princips in
der repräsentativen Demokratie bedeutend gesteigert. Wenn
in der unmittelbaren Demokratie die gesammte Bürgerschaft
an einem Orte beisammen ist, so ist diese Versammlung doch
in Wahrheit nicht eine blosze Summe von einzelnen gleichen
Individuen, sondern es macht sich in der Masse die Autorität
der angesehensten Männer geltend; die Magistrate, die Redner,
die über das Niveau emporragen, üben einen Einflusz aus,
und es kann sich eher auch in der Mehrheit eine Meinung
bilden, welche dem Volke als einem Ganzen nach seiner
wahren Natur entspricht. In der repräsentativen Demokratie
dagegen ist das Volk nicht so vereinigt, sondern die Bürger-

Sechstes Buch. Die Statsformen.
sollen in dessen Namen und Auftrag regieren. Die
grosze Schwierigkeit aber liegt darin, die Wahl so zu orga-
nisiren, dasz wirklich die Besten an Gesinnung und Einsicht
zu Repräsentanten der Volksherrschaft gewählt werden.

Man ist in unserer Zeit geneigt, diese Wahlen einfach
nach Maszgabe der Kopfzahl der Wahlen zu vertheilen.
Diese Neigung entspricht dem demokratischen Zuge der Zeit;
denn in der That die Demokratie legt auf die Gleichheit
Aller
einen entscheidenden Werth und gelangt daher in
ihren Einrichtungen leicht zu mathematischen Normen.
Sie zählt die gleichen Bürger, und nach ihrer Zahl sucht sie
ihnen gleiche Rechte beizulegen.

Indessen paszt dieses System der Kopfzahl offenbar besser
zu der unmittelbaren Demokratie, welche auch die Ausübung
der Herrschaft gleichmäszig über die ganze Bürgerschaft ver-
breitet, als zu der Repräsentativdemokratie, welche unter den
Bürgern nach ihrer höheren oder geringeren Würdigkeit un-
terscheidet und nur den Bessern die Verwaltung der öffent-
lichen Angelegenheiten anvertraut. Die letztere Statsform
nimmt auf die Qualität der Gewählten Rücksicht, und eben
darum ist es für sie nicht ebenso natürlich, bei der Verthei-
lung der Wahlkreise nur die Quantität in Anschlag zu
bringen. Ueberdem werden die Gebrechen dieses Princips in
der repräsentativen Demokratie bedeutend gesteigert. Wenn
in der unmittelbaren Demokratie die gesammte Bürgerschaft
an einem Orte beisammen ist, so ist diese Versammlung doch
in Wahrheit nicht eine blosze Summe von einzelnen gleichen
Individuen, sondern es macht sich in der Masse die Autorität
der angesehensten Männer geltend; die Magistrate, die Redner,
die über das Niveau emporragen, üben einen Einflusz aus,
und es kann sich eher auch in der Mehrheit eine Meinung
bilden, welche dem Volke als einem Ganzen nach seiner
wahren Natur entspricht. In der repräsentativen Demokratie
dagegen ist das Volk nicht so vereinigt, sondern die Bürger-

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[550/0568] Sechstes Buch. Die Statsformen. sollen in dessen Namen und Auftrag regieren. Die grosze Schwierigkeit aber liegt darin, die Wahl so zu orga- nisiren, dasz wirklich die Besten an Gesinnung und Einsicht zu Repräsentanten der Volksherrschaft gewählt werden. Man ist in unserer Zeit geneigt, diese Wahlen einfach nach Maszgabe der Kopfzahl der Wahlen zu vertheilen. Diese Neigung entspricht dem demokratischen Zuge der Zeit; denn in der That die Demokratie legt auf die Gleichheit Aller einen entscheidenden Werth und gelangt daher in ihren Einrichtungen leicht zu mathematischen Normen. Sie zählt die gleichen Bürger, und nach ihrer Zahl sucht sie ihnen gleiche Rechte beizulegen. Indessen paszt dieses System der Kopfzahl offenbar besser zu der unmittelbaren Demokratie, welche auch die Ausübung der Herrschaft gleichmäszig über die ganze Bürgerschaft ver- breitet, als zu der Repräsentativdemokratie, welche unter den Bürgern nach ihrer höheren oder geringeren Würdigkeit un- terscheidet und nur den Bessern die Verwaltung der öffent- lichen Angelegenheiten anvertraut. Die letztere Statsform nimmt auf die Qualität der Gewählten Rücksicht, und eben darum ist es für sie nicht ebenso natürlich, bei der Verthei- lung der Wahlkreise nur die Quantität in Anschlag zu bringen. Ueberdem werden die Gebrechen dieses Princips in der repräsentativen Demokratie bedeutend gesteigert. Wenn in der unmittelbaren Demokratie die gesammte Bürgerschaft an einem Orte beisammen ist, so ist diese Versammlung doch in Wahrheit nicht eine blosze Summe von einzelnen gleichen Individuen, sondern es macht sich in der Masse die Autorität der angesehensten Männer geltend; die Magistrate, die Redner, die über das Niveau emporragen, üben einen Einflusz aus, und es kann sich eher auch in der Mehrheit eine Meinung bilden, welche dem Volke als einem Ganzen nach seiner wahren Natur entspricht. In der repräsentativen Demokratie dagegen ist das Volk nicht so vereinigt, sondern die Bürger-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 550. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/568>, abgerufen am 18.04.2024.