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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
und bekennt sich für das Princip der sogenannten Volks-
souveränetät
.

Da fragt sich aber voraus: was versteht sie unter dem
"Volk"? Die einen verstehen darunter lediglich die Summe
der Individuen, die zum State sich zusammen finden, d. h. sie
lösen im Gedanken den Stat in seine Atome auf und sprechen
der unorganischen Masse oder der Mehrheit dieser Individuen
die höchste Gewalt zu. Diese äuszerste radicale Meinung ist
offenbar im Widerspruch mit der Existenz des States, welche
die Grundlage der Souveränetät ist. Sie ist daher mit gar
keiner Statsverfassung vereinbar, auch nicht mit der abso-
luten Demokratie, welche sie zu begründen vorgibt; denn auch
da übt wohl die geordnete Volksversammlung (Landsgemeinde),
nicht aber die atomisirte Menge die Statsgewalt aus.

2. Die andern denken dabei an die gesammte gleiche
Statsbürgerschaft
, welche in Gemeinden versammelt ihren
Willen ausspricht, d. h. sie denken an die Souveränetät des
Demos in der Demokratie. Beschränkt auf diese Statsform
hat das Princip einer so verstandenen Volkssouveränetät einen
Sinn und eine Wahrheit; es ist dann mit Demokratie sogar
wörtlich gleichbedeutend. Schon für die Repräsentativdemo-
kratie aber verliert der Satz groszen Theils seine Anwendung,
weil in der regelmäszigen Thätigkeit die oberste Macht nicht
von der Bürgerschaft unmittelbar, sondern nur mittelbar
von den Repräsentanten derselben ausgeübt wird. Ganz
unvereinbar ist derselbe mit allen andern Statsformen, denen
sie die sonderbare Zumuthung macht, dasz das Statshaupt
sich dem niedrigsten Statsbürger gleich stelle, und die Regie-
renden sich als Minderheit der Mehrheit der Regierten unter-
ordnen. Sie weist im Statskörper den Füszen die Stellung des
Kopfes an und diesem den Platz der Füsze.

3. Zuweilen werden auch die beiden Meinungen nicht
scharf unterschieden, sondern gehen in einander über. Die
eine ist anarchisch, die andere ist absolut demokratisch. Den-

Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
und bekennt sich für das Princip der sogenannten Volks-
souveränetät
.

Da fragt sich aber voraus: was versteht sie unter dem
Volk“? Die einen verstehen darunter lediglich die Summe
der Individuen, die zum State sich zusammen finden, d. h. sie
lösen im Gedanken den Stat in seine Atome auf und sprechen
der unorganischen Masse oder der Mehrheit dieser Individuen
die höchste Gewalt zu. Diese äuszerste radicale Meinung ist
offenbar im Widerspruch mit der Existenz des States, welche
die Grundlage der Souveränetät ist. Sie ist daher mit gar
keiner Statsverfassung vereinbar, auch nicht mit der abso-
luten Demokratie, welche sie zu begründen vorgibt; denn auch
da übt wohl die geordnete Volksversammlung (Landsgemeinde),
nicht aber die atomisirte Menge die Statsgewalt aus.

2. Die andern denken dabei an die gesammte gleiche
Statsbürgerschaft
, welche in Gemeinden versammelt ihren
Willen ausspricht, d. h. sie denken an die Souveränetät des
Demos in der Demokratie. Beschränkt auf diese Statsform
hat das Princip einer so verstandenen Volkssouveränetät einen
Sinn und eine Wahrheit; es ist dann mit Demokratie sogar
wörtlich gleichbedeutend. Schon für die Repräsentativdemo-
kratie aber verliert der Satz groszen Theils seine Anwendung,
weil in der regelmäszigen Thätigkeit die oberste Macht nicht
von der Bürgerschaft unmittelbar, sondern nur mittelbar
von den Repräsentanten derselben ausgeübt wird. Ganz
unvereinbar ist derselbe mit allen andern Statsformen, denen
sie die sonderbare Zumuthung macht, dasz das Statshaupt
sich dem niedrigsten Statsbürger gleich stelle, und die Regie-
renden sich als Minderheit der Mehrheit der Regierten unter-
ordnen. Sie weist im Statskörper den Füszen die Stellung des
Kopfes an und diesem den Platz der Füsze.

3. Zuweilen werden auch die beiden Meinungen nicht
scharf unterschieden, sondern gehen in einander über. Die
eine ist anarchisch, die andere ist absolut demokratisch. Den-

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[566/0584] Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc. und bekennt sich für das Princip der sogenannten Volks- souveränetät. Da fragt sich aber voraus: was versteht sie unter dem „Volk“? Die einen verstehen darunter lediglich die Summe der Individuen, die zum State sich zusammen finden, d. h. sie lösen im Gedanken den Stat in seine Atome auf und sprechen der unorganischen Masse oder der Mehrheit dieser Individuen die höchste Gewalt zu. Diese äuszerste radicale Meinung ist offenbar im Widerspruch mit der Existenz des States, welche die Grundlage der Souveränetät ist. Sie ist daher mit gar keiner Statsverfassung vereinbar, auch nicht mit der abso- luten Demokratie, welche sie zu begründen vorgibt; denn auch da übt wohl die geordnete Volksversammlung (Landsgemeinde), nicht aber die atomisirte Menge die Statsgewalt aus. 2. Die andern denken dabei an die gesammte gleiche Statsbürgerschaft, welche in Gemeinden versammelt ihren Willen ausspricht, d. h. sie denken an die Souveränetät des Demos in der Demokratie. Beschränkt auf diese Statsform hat das Princip einer so verstandenen Volkssouveränetät einen Sinn und eine Wahrheit; es ist dann mit Demokratie sogar wörtlich gleichbedeutend. Schon für die Repräsentativdemo- kratie aber verliert der Satz groszen Theils seine Anwendung, weil in der regelmäszigen Thätigkeit die oberste Macht nicht von der Bürgerschaft unmittelbar, sondern nur mittelbar von den Repräsentanten derselben ausgeübt wird. Ganz unvereinbar ist derselbe mit allen andern Statsformen, denen sie die sonderbare Zumuthung macht, dasz das Statshaupt sich dem niedrigsten Statsbürger gleich stelle, und die Regie- renden sich als Minderheit der Mehrheit der Regierten unter- ordnen. Sie weist im Statskörper den Füszen die Stellung des Kopfes an und diesem den Platz der Füsze. 3. Zuweilen werden auch die beiden Meinungen nicht scharf unterschieden, sondern gehen in einander über. Die eine ist anarchisch, die andere ist absolut demokratisch. Den-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 566. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/584>, abgerufen am 23.04.2024.