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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Drittes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. I. Die antike Welt.

Aber in einigen wesentlichen Beziehungen unterscheidet
sich doch der römische Statsbegriff von der hellenischen Idee:

1) Indem die Römer zuerst das Recht von der Moral
ausscheiden und in bestimmter Form darstellen, prägen sie
die Rechtsnatur des States viel entschiedener aus. Sie be-
schränken dadurch den Stat und sie befestigen und bekräftigen
ihn. Er ist ihnen nicht mehr die gesammte ethische Welt-
ordnung, sondern zunächst die gemeinsame Rechtsord-
nung
. Die Römer überlassen sehr Vieles der freien Sitte, der
Religiosität der Menschen. Die römische Familie ist freier
dem State gegenüber; das Privatvermögen und das Privatrecht
überhaupt wird besser geschützt, auch gegen die Willkür der
öffentlichen Gewalten. Zwar ist auch ihnen das Statswohl das
oberste Gesetz. Vom State aus ordnen sie auch die Götter-
verehrung. Niemand kann dem State widerstehen, wenn dieser
seinen Willen ausspricht. Aber der römische Stat beschränkt
sich selber; er bestimmt selber die Grenzen seines Macht-
bereichs und seiner Einwirkung.

2) Ferner erkennen die Römer den Volksbegriff und
bringen die Statsverfassung in einen organischen Zusammen-
hang mit dem Volk. Sie erklärten den Stat als "die Gestal-
tung des Volks" und bezeichnen den Willen des Volks als die
Quelle alles Rechts. 5 Der römische Stat ist doch nicht eine
blosze Gemeinde, er erhebt sich zum Volksstat (res publica).

3) Der Römerstat ist überdem darauf angelegt, sich zum
Weltstat zu erweitern. Durch die ganze römische Ge-
schichte geht dieser Zug zur Weltherrschaft; an den natio-
nalen Kern des jus civile schlosz sich die menschlichere

5 Cicero de Rep. I. 25.: "Est igitur, inquit (Scipio) Africanus, res
publica res populi; populus autem non omnis hominum coetus quoquo
modo congregatus, sed coetus multitudinis juris consensu et utilitatis
communione
sociatus." I. 26.: "Civitas est constitutio
populi
." Gajus
Inst. I. §. 1.: "Nam quod quisque populus ipse sibi jus constituit, id
ipsius proprium civitatis est, vocaturque jus civile."
Drittes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. I. Die antike Welt.

Aber in einigen wesentlichen Beziehungen unterscheidet
sich doch der römische Statsbegriff von der hellenischen Idee:

1) Indem die Römer zuerst das Recht von der Moral
ausscheiden und in bestimmter Form darstellen, prägen sie
die Rechtsnatur des States viel entschiedener aus. Sie be-
schränken dadurch den Stat und sie befestigen und bekräftigen
ihn. Er ist ihnen nicht mehr die gesammte ethische Welt-
ordnung, sondern zunächst die gemeinsame Rechtsord-
nung
. Die Römer überlassen sehr Vieles der freien Sitte, der
Religiosität der Menschen. Die römische Familie ist freier
dem State gegenüber; das Privatvermögen und das Privatrecht
überhaupt wird besser geschützt, auch gegen die Willkür der
öffentlichen Gewalten. Zwar ist auch ihnen das Statswohl das
oberste Gesetz. Vom State aus ordnen sie auch die Götter-
verehrung. Niemand kann dem State widerstehen, wenn dieser
seinen Willen ausspricht. Aber der römische Stat beschränkt
sich selber; er bestimmt selber die Grenzen seines Macht-
bereichs und seiner Einwirkung.

2) Ferner erkennen die Römer den Volksbegriff und
bringen die Statsverfassung in einen organischen Zusammen-
hang mit dem Volk. Sie erklärten den Stat als „die Gestal-
tung des Volks“ und bezeichnen den Willen des Volks als die
Quelle alles Rechts. 5 Der römische Stat ist doch nicht eine
blosze Gemeinde, er erhebt sich zum Volksstat (res publica).

3) Der Römerstat ist überdem darauf angelegt, sich zum
Weltstat zu erweitern. Durch die ganze römische Ge-
schichte geht dieser Zug zur Weltherrschaft; an den natio-
nalen Kern des jus civile schlosz sich die menschlichere

5 Cicero de Rep. I. 25.: „Est igitur, inquit (Scipio) Africanus, res
publica res populi; populus autem non omnis hominum coetus quoquo
modo congregatus, sed coetus multitudinis juris consensu et utilitatis
communione
sociatus.“ I. 26.: „Civitas est constitutio
populi
.“ Gajus
Inst. I. §. 1.: „Nam quod quisque populus ipse sibi jus constituit, id
ipsius proprium civitatis est, vocaturque jus civile.“
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[41/0059] Drittes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. I. Die antike Welt. Aber in einigen wesentlichen Beziehungen unterscheidet sich doch der römische Statsbegriff von der hellenischen Idee: 1) Indem die Römer zuerst das Recht von der Moral ausscheiden und in bestimmter Form darstellen, prägen sie die Rechtsnatur des States viel entschiedener aus. Sie be- schränken dadurch den Stat und sie befestigen und bekräftigen ihn. Er ist ihnen nicht mehr die gesammte ethische Welt- ordnung, sondern zunächst die gemeinsame Rechtsord- nung. Die Römer überlassen sehr Vieles der freien Sitte, der Religiosität der Menschen. Die römische Familie ist freier dem State gegenüber; das Privatvermögen und das Privatrecht überhaupt wird besser geschützt, auch gegen die Willkür der öffentlichen Gewalten. Zwar ist auch ihnen das Statswohl das oberste Gesetz. Vom State aus ordnen sie auch die Götter- verehrung. Niemand kann dem State widerstehen, wenn dieser seinen Willen ausspricht. Aber der römische Stat beschränkt sich selber; er bestimmt selber die Grenzen seines Macht- bereichs und seiner Einwirkung. 2) Ferner erkennen die Römer den Volksbegriff und bringen die Statsverfassung in einen organischen Zusammen- hang mit dem Volk. Sie erklärten den Stat als „die Gestal- tung des Volks“ und bezeichnen den Willen des Volks als die Quelle alles Rechts. 5 Der römische Stat ist doch nicht eine blosze Gemeinde, er erhebt sich zum Volksstat (res publica). 3) Der Römerstat ist überdem darauf angelegt, sich zum Weltstat zu erweitern. Durch die ganze römische Ge- schichte geht dieser Zug zur Weltherrschaft; an den natio- nalen Kern des jus civile schlosz sich die menschlichere 5 Cicero de Rep. I. 25.: „Est igitur, inquit (Scipio) Africanus, res publica res populi; populus autem non omnis hominum coetus quoquo modo congregatus, sed coetus multitudinis juris consensu et utilitatis communione sociatus.“ I. 26.: „Civitas est constitutio populi.“ Gajus Inst. I. §. 1.: „Nam quod quisque populus ipse sibi jus constituit, id ipsius proprium civitatis est, vocaturque jus civile.“

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/59>, abgerufen am 23.04.2024.