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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
obersten Macht. Die Statssouveränetät ist vorzüglich die des
Gesetzes, die Fürstensouveränetät die der Regierung. Wo jene
ruht, da ist diese wirksam. Ein wirklicher Conflict ist
nicht leicht, im Princip überall nicht möglich, denn er würde
den Conflict des Oberhauptes für sich allein mit dem Ober-
haupte in Verbindung mit den übrigen Gliedern des States,
also einen Conflict der nämlichen Person mit sich selber vor-
aussetzen.

Während somit zwischen der demokratischen Volkssou-
veränetät und der Fürstensouveränetät kein wahrer Friede
denkbar ist, sondern nothwendig die eine die andere unter-
werfen und aufheben musz, so ist dagegen zwischen der Stats-
souveränetät und der Fürstensouveränetät die nämliche Har-
monie wie zwischen dem ganzen Menschen und seinem Kopf.

Anmerkung. Zuweilen versteht man unter der Volkssouveränetät
nicht die oberste Macht der Volksmehrheit, sondern nur den Gedanken,
dasz eine Statsform oder Regierungsweise, welche mit der Existenz und
Wohlfahrt der Mehrheit des Volkes unverträglich sei, auch unhalt-
bar
sei, oder dasz die Statsform und Regierung für das Volk da sei.
Dieser Gedanke ist nicht zu bestreiten, aber er ist in jener Bezeichnung
durchaus falsch ausgedrückt.

Will man ferner den Satz, dasz alle Statsgewalt ursprünglich von
dem Willen der Volksmehrheit abgeleitet sei, die Volkssouveränetät
heiszen, so ist zwar zuzugeben, dasz viele Statsverfassungen, wie insbe-
sondere die demokratischen, aber auch einzelne Monarchien, z. B. das
römische und das französische Kaiserthum, nach der Lehre des römischen
und des französischen Statsrechts auf einem Willensact der Volksmehr-
heit beruhen. In dieser Weise erklären mehrere schweizerische Ver-
fassungen, nicht dasz das Volk souverän sei, wohl aber, dasz "die Sou-
veränetät auf der Gesammtheit des Volkes beruhe und von dem groszen
Rathe ausgeübt werde." Z. B. Züricher Verfassung von 1831
§. 1.
Aber auch dieser Satz hat keineswegs für alle Staten Geltung, und der
Ausdruck Souveränetät, der ein fortdauerndes Recht bedeutet, kann nur
uneigentlich auf solche geschichtliche Vorgänge angewendet werden.

Durchaus verwerflich endlich und selbst mit dem demokratischen
Statsrecht unvereinbar ist der Sinn, der oft schon practisch dem Worte
Volkssouveränetät beigelegt wurde, dasz das Volk im Gegensatze zur
Regierung oder gar jede gereizte und mächtige Volksmasse berechtigt sei,
die Regierung nach Willkür zu verjagen und die Verfassung zu brechen.



Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
obersten Macht. Die Statssouveränetät ist vorzüglich die des
Gesetzes, die Fürstensouveränetät die der Regierung. Wo jene
ruht, da ist diese wirksam. Ein wirklicher Conflict ist
nicht leicht, im Princip überall nicht möglich, denn er würde
den Conflict des Oberhauptes für sich allein mit dem Ober-
haupte in Verbindung mit den übrigen Gliedern des States,
also einen Conflict der nämlichen Person mit sich selber vor-
aussetzen.

Während somit zwischen der demokratischen Volkssou-
veränetät und der Fürstensouveränetät kein wahrer Friede
denkbar ist, sondern nothwendig die eine die andere unter-
werfen und aufheben musz, so ist dagegen zwischen der Stats-
souveränetät und der Fürstensouveränetät die nämliche Har-
monie wie zwischen dem ganzen Menschen und seinem Kopf.

Anmerkung. Zuweilen versteht man unter der Volkssouveränetät
nicht die oberste Macht der Volksmehrheit, sondern nur den Gedanken,
dasz eine Statsform oder Regierungsweise, welche mit der Existenz und
Wohlfahrt der Mehrheit des Volkes unverträglich sei, auch unhalt-
bar
sei, oder dasz die Statsform und Regierung für das Volk da sei.
Dieser Gedanke ist nicht zu bestreiten, aber er ist in jener Bezeichnung
durchaus falsch ausgedrückt.

Will man ferner den Satz, dasz alle Statsgewalt ursprünglich von
dem Willen der Volksmehrheit abgeleitet sei, die Volkssouveränetät
heiszen, so ist zwar zuzugeben, dasz viele Statsverfassungen, wie insbe-
sondere die demokratischen, aber auch einzelne Monarchien, z. B. das
römische und das französische Kaiserthum, nach der Lehre des römischen
und des französischen Statsrechts auf einem Willensact der Volksmehr-
heit beruhen. In dieser Weise erklären mehrere schweizerische Ver-
fassungen, nicht dasz das Volk souverän sei, wohl aber, dasz „die Sou-
veränetät auf der Gesammtheit des Volkes beruhe und von dem groszen
Rathe ausgeübt werde.“ Z. B. Züricher Verfassung von 1831
§. 1.
Aber auch dieser Satz hat keineswegs für alle Staten Geltung, und der
Ausdruck Souveränetät, der ein fortdauerndes Recht bedeutet, kann nur
uneigentlich auf solche geschichtliche Vorgänge angewendet werden.

Durchaus verwerflich endlich und selbst mit dem demokratischen
Statsrecht unvereinbar ist der Sinn, der oft schon practisch dem Worte
Volkssouveränetät beigelegt wurde, dasz das Volk im Gegensatze zur
Regierung oder gar jede gereizte und mächtige Volksmasse berechtigt sei,
die Regierung nach Willkür zu verjagen und die Verfassung zu brechen.



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[574/0592] Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc. obersten Macht. Die Statssouveränetät ist vorzüglich die des Gesetzes, die Fürstensouveränetät die der Regierung. Wo jene ruht, da ist diese wirksam. Ein wirklicher Conflict ist nicht leicht, im Princip überall nicht möglich, denn er würde den Conflict des Oberhauptes für sich allein mit dem Ober- haupte in Verbindung mit den übrigen Gliedern des States, also einen Conflict der nämlichen Person mit sich selber vor- aussetzen. Während somit zwischen der demokratischen Volkssou- veränetät und der Fürstensouveränetät kein wahrer Friede denkbar ist, sondern nothwendig die eine die andere unter- werfen und aufheben musz, so ist dagegen zwischen der Stats- souveränetät und der Fürstensouveränetät die nämliche Har- monie wie zwischen dem ganzen Menschen und seinem Kopf. Anmerkung. Zuweilen versteht man unter der Volkssouveränetät nicht die oberste Macht der Volksmehrheit, sondern nur den Gedanken, dasz eine Statsform oder Regierungsweise, welche mit der Existenz und Wohlfahrt der Mehrheit des Volkes unverträglich sei, auch unhalt- bar sei, oder dasz die Statsform und Regierung für das Volk da sei. Dieser Gedanke ist nicht zu bestreiten, aber er ist in jener Bezeichnung durchaus falsch ausgedrückt. Will man ferner den Satz, dasz alle Statsgewalt ursprünglich von dem Willen der Volksmehrheit abgeleitet sei, die Volkssouveränetät heiszen, so ist zwar zuzugeben, dasz viele Statsverfassungen, wie insbe- sondere die demokratischen, aber auch einzelne Monarchien, z. B. das römische und das französische Kaiserthum, nach der Lehre des römischen und des französischen Statsrechts auf einem Willensact der Volksmehr- heit beruhen. In dieser Weise erklären mehrere schweizerische Ver- fassungen, nicht dasz das Volk souverän sei, wohl aber, dasz „die Sou- veränetät auf der Gesammtheit des Volkes beruhe und von dem groszen Rathe ausgeübt werde.“ Z. B. Züricher Verfassung von 1831 §. 1. Aber auch dieser Satz hat keineswegs für alle Staten Geltung, und der Ausdruck Souveränetät, der ein fortdauerndes Recht bedeutet, kann nur uneigentlich auf solche geschichtliche Vorgänge angewendet werden. Durchaus verwerflich endlich und selbst mit dem demokratischen Statsrecht unvereinbar ist der Sinn, der oft schon practisch dem Worte Volkssouveränetät beigelegt wurde, dasz das Volk im Gegensatze zur Regierung oder gar jede gereizte und mächtige Volksmasse berechtigt sei, die Regierung nach Willkür zu verjagen und die Verfassung zu brechen.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 574. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/592>, abgerufen am 25.04.2024.