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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Erstes Buch. Der Statsbegriff.
die geistige Bedeutung des Stats übersehen und verkannt,
und da alles Geistesleben von der Kirche geleitet werden
sollte, der blosz leiblich geachtete Stat in eine untergeordnete
Stellung nieder gedrückt. Der Trost gegen diese Uebel, wel-
cher in der Erhebung der Statsidee über die enge Nationalität
lag, war doch unzureichend. Weniger die Menschheit, als die
Christenheit sollte er in äuszerlichen Dingen ordnen und
leiten. Das römische Reich ward so gut es ging, in mittel-
alterlichen Formen erneuert, aber die angesehenere Darstellung
desselben war die römische Kirche, die mindere das heilige
römische Reich deutscher Nation
.

B. Die Germanen.

Das alt-römische Weltreich konnte sich auf die Dauer
nicht mehr behaupten gegen die germanischen Völker. Bald
mit Gewalt entrissen diese kriegerischen Völkerschaften eine
Provinz nach der andern der römischen Herrschaft, bald wur-
den die germanischen Fürsten mit ihren Volksheeren von den
romanischen Provincialen oder den Kaisern selber zum Schutz
herbeigerufen und übernahmen dann in friedlicher Weise die
Landeshoheit. Während des Mittelalters herrschten überall in
dem Abendlande die Germanen. Sie kamen unter die christ-
liche Erziehung der römischen Kirche und geriethen unter
den nachwirkenden Einfluss der römischen Cultur. Aber sie
behaupteten sich auf den Thronen der Fürsten und in den
Burgen der Aristokratie. Das Scepter und das Schwert waren
vornehmlich in ihren Händen.

Die Germanen sind nicht in dem eminenten Sinne eine
statliche Nation, wie die Römer. Nur widerwillig ordnen sie
sich dem groszen Ganzen unter. Ihr starkes, trotziges und
eigenwilliges Selbstgefühl tritt dem Gesammtbewusztsein hin-
dernd in den Weg und lähmt dessen Macht. Sie bedurften
daher erst der romanischen Erziehung für den Stat. Aber trotz
alledem hat die weltgeschichtliche Entwicklung des States
ihnen sehr viel zu verdanken. Die Germanen voraus haben

Erstes Buch. Der Statsbegriff.
die geistige Bedeutung des Stats übersehen und verkannt,
und da alles Geistesleben von der Kirche geleitet werden
sollte, der blosz leiblich geachtete Stat in eine untergeordnete
Stellung nieder gedrückt. Der Trost gegen diese Uebel, wel-
cher in der Erhebung der Statsidee über die enge Nationalität
lag, war doch unzureichend. Weniger die Menschheit, als die
Christenheit sollte er in äuszerlichen Dingen ordnen und
leiten. Das römische Reich ward so gut es ging, in mittel-
alterlichen Formen erneuert, aber die angesehenere Darstellung
desselben war die römische Kirche, die mindere das heilige
römische Reich deutscher Nation
.

B. Die Germanen.

Das alt-römische Weltreich konnte sich auf die Dauer
nicht mehr behaupten gegen die germanischen Völker. Bald
mit Gewalt entrissen diese kriegerischen Völkerschaften eine
Provinz nach der andern der römischen Herrschaft, bald wur-
den die germanischen Fürsten mit ihren Volksheeren von den
romanischen Provincialen oder den Kaisern selber zum Schutz
herbeigerufen und übernahmen dann in friedlicher Weise die
Landeshoheit. Während des Mittelalters herrschten überall in
dem Abendlande die Germanen. Sie kamen unter die christ-
liche Erziehung der römischen Kirche und geriethen unter
den nachwirkenden Einfluss der römischen Cultur. Aber sie
behaupteten sich auf den Thronen der Fürsten und in den
Burgen der Aristokratie. Das Scepter und das Schwert waren
vornehmlich in ihren Händen.

Die Germanen sind nicht in dem eminenten Sinne eine
statliche Nation, wie die Römer. Nur widerwillig ordnen sie
sich dem groszen Ganzen unter. Ihr starkes, trotziges und
eigenwilliges Selbstgefühl tritt dem Gesammtbewusztsein hin-
dernd in den Weg und lähmt dessen Macht. Sie bedurften
daher erst der romanischen Erziehung für den Stat. Aber trotz
alledem hat die weltgeschichtliche Entwicklung des States
ihnen sehr viel zu verdanken. Die Germanen voraus haben

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[44/0062] Erstes Buch. Der Statsbegriff. die geistige Bedeutung des Stats übersehen und verkannt, und da alles Geistesleben von der Kirche geleitet werden sollte, der blosz leiblich geachtete Stat in eine untergeordnete Stellung nieder gedrückt. Der Trost gegen diese Uebel, wel- cher in der Erhebung der Statsidee über die enge Nationalität lag, war doch unzureichend. Weniger die Menschheit, als die Christenheit sollte er in äuszerlichen Dingen ordnen und leiten. Das römische Reich ward so gut es ging, in mittel- alterlichen Formen erneuert, aber die angesehenere Darstellung desselben war die römische Kirche, die mindere das heilige römische Reich deutscher Nation. B. Die Germanen. Das alt-römische Weltreich konnte sich auf die Dauer nicht mehr behaupten gegen die germanischen Völker. Bald mit Gewalt entrissen diese kriegerischen Völkerschaften eine Provinz nach der andern der römischen Herrschaft, bald wur- den die germanischen Fürsten mit ihren Volksheeren von den romanischen Provincialen oder den Kaisern selber zum Schutz herbeigerufen und übernahmen dann in friedlicher Weise die Landeshoheit. Während des Mittelalters herrschten überall in dem Abendlande die Germanen. Sie kamen unter die christ- liche Erziehung der römischen Kirche und geriethen unter den nachwirkenden Einfluss der römischen Cultur. Aber sie behaupteten sich auf den Thronen der Fürsten und in den Burgen der Aristokratie. Das Scepter und das Schwert waren vornehmlich in ihren Händen. Die Germanen sind nicht in dem eminenten Sinne eine statliche Nation, wie die Römer. Nur widerwillig ordnen sie sich dem groszen Ganzen unter. Ihr starkes, trotziges und eigenwilliges Selbstgefühl tritt dem Gesammtbewusztsein hin- dernd in den Weg und lähmt dessen Macht. Sie bedurften daher erst der romanischen Erziehung für den Stat. Aber trotz alledem hat die weltgeschichtliche Entwicklung des States ihnen sehr viel zu verdanken. Die Germanen voraus haben

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/62>, abgerufen am 23.04.2024.