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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Erstes Buch. Der Statsbegriff.
geistige Hauptstadt der Abendländer geblieben. Das alte,
römische Weltreich freilich war vor den Germanen in Stücke
geschlagen worden, aber die Germanen, welche aus den rö-
mischen Provinzen selbständige Königreiche geschaffen hatten,
erhielten ihre Bildung und voraus ihre Religion doch wieder
von Rom und an die Stelle der untergegangenen Römerstadt
trat nun die römische Kirche als herrschende Weltmacht
des Mittelalters, der sich auch die gläubigen Germanen unter-
warfen. In den Institutionen, in der Methode, in den Sitten,
im Recht und in der Sprache der römischen Kirche war
Vieles, ja das Meiste aus dem antiken römischen State über-
liefert. Das alte Kaiserreich hatte sich in das neuere Papst-
reich, der Weltstat in die Weltkirche umgewandelt, um in
dieser Form die Völker leichter zu beherrschen. Hatte der
alt-römische Kaiser durch seine Statthalter und Beamten mit
Hülfe des römischen Rechts und im Namen des römischen
Volks und Stats seine Herrschaft geübt und derselben mit
seinen Legionen Nachdruck gegeben, so verehrte man nun den
römischen Papst im Namen Gottes und der Kirche durch
die Bischöfe und mit Hülfe des kanonischen Rechts und der
Kirchenzucht und gab seinen Decreten Nachdruck durch die
zahlreichen Mönchsorden, welche den Wiederstand besiegten.

Daneben aber erhielt sich die Erinnerung an das alte
Kaiserthum. Wir wissen nun, wie grundverschieden das
römische Kaiserthum, welches seit Karl dem Groszen die
Könige der Franken und seit Otto dem Groszen die deut-
schen Könige erneuert und sich zugeeignet hatten, von dem
antiken römischen Kaiserthum war, dessen Sitze Rom und
Konstantinopel gewesen waren. Aber das ganze Mittelalter
glaubte, dasz jenes nur die Fortsetzung dieses und der frän-
kisch-römische Kaiser oder der römische Kaiser deutscher
Nation der rechtmäszige Nachfolger der Claudier, der Antonine
und der Konstantine sei. Und jedenfalls bedeutete die er-
neuerte Würde der Kaiser eine Erinnerung an das antike

Erstes Buch. Der Statsbegriff.
geistige Hauptstadt der Abendländer geblieben. Das alte,
römische Weltreich freilich war vor den Germanen in Stücke
geschlagen worden, aber die Germanen, welche aus den rö-
mischen Provinzen selbständige Königreiche geschaffen hatten,
erhielten ihre Bildung und voraus ihre Religion doch wieder
von Rom und an die Stelle der untergegangenen Römerstadt
trat nun die römische Kirche als herrschende Weltmacht
des Mittelalters, der sich auch die gläubigen Germanen unter-
warfen. In den Institutionen, in der Methode, in den Sitten,
im Recht und in der Sprache der römischen Kirche war
Vieles, ja das Meiste aus dem antiken römischen State über-
liefert. Das alte Kaiserreich hatte sich in das neuere Papst-
reich, der Weltstat in die Weltkirche umgewandelt, um in
dieser Form die Völker leichter zu beherrschen. Hatte der
alt-römische Kaiser durch seine Statthalter und Beamten mit
Hülfe des römischen Rechts und im Namen des römischen
Volks und Stats seine Herrschaft geübt und derselben mit
seinen Legionen Nachdruck gegeben, so verehrte man nun den
römischen Papst im Namen Gottes und der Kirche durch
die Bischöfe und mit Hülfe des kanonischen Rechts und der
Kirchenzucht und gab seinen Decreten Nachdruck durch die
zahlreichen Mönchsorden, welche den Wiederstand besiegten.

Daneben aber erhielt sich die Erinnerung an das alte
Kaiserthum. Wir wissen nun, wie grundverschieden das
römische Kaiserthum, welches seit Karl dem Groszen die
Könige der Franken und seit Otto dem Groszen die deut-
schen Könige erneuert und sich zugeeignet hatten, von dem
antiken römischen Kaiserthum war, dessen Sitze Rom und
Konstantinopel gewesen waren. Aber das ganze Mittelalter
glaubte, dasz jenes nur die Fortsetzung dieses und der frän-
kisch-römische Kaiser oder der römische Kaiser deutscher
Nation der rechtmäszige Nachfolger der Claudier, der Antonine
und der Konstantine sei. Und jedenfalls bedeutete die er-
neuerte Würde der Kaiser eine Erinnerung an das antike

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[48/0066] Erstes Buch. Der Statsbegriff. geistige Hauptstadt der Abendländer geblieben. Das alte, römische Weltreich freilich war vor den Germanen in Stücke geschlagen worden, aber die Germanen, welche aus den rö- mischen Provinzen selbständige Königreiche geschaffen hatten, erhielten ihre Bildung und voraus ihre Religion doch wieder von Rom und an die Stelle der untergegangenen Römerstadt trat nun die römische Kirche als herrschende Weltmacht des Mittelalters, der sich auch die gläubigen Germanen unter- warfen. In den Institutionen, in der Methode, in den Sitten, im Recht und in der Sprache der römischen Kirche war Vieles, ja das Meiste aus dem antiken römischen State über- liefert. Das alte Kaiserreich hatte sich in das neuere Papst- reich, der Weltstat in die Weltkirche umgewandelt, um in dieser Form die Völker leichter zu beherrschen. Hatte der alt-römische Kaiser durch seine Statthalter und Beamten mit Hülfe des römischen Rechts und im Namen des römischen Volks und Stats seine Herrschaft geübt und derselben mit seinen Legionen Nachdruck gegeben, so verehrte man nun den römischen Papst im Namen Gottes und der Kirche durch die Bischöfe und mit Hülfe des kanonischen Rechts und der Kirchenzucht und gab seinen Decreten Nachdruck durch die zahlreichen Mönchsorden, welche den Wiederstand besiegten. Daneben aber erhielt sich die Erinnerung an das alte Kaiserthum. Wir wissen nun, wie grundverschieden das römische Kaiserthum, welches seit Karl dem Groszen die Könige der Franken und seit Otto dem Groszen die deut- schen Könige erneuert und sich zugeeignet hatten, von dem antiken römischen Kaiserthum war, dessen Sitze Rom und Konstantinopel gewesen waren. Aber das ganze Mittelalter glaubte, dasz jenes nur die Fortsetzung dieses und der frän- kisch-römische Kaiser oder der römische Kaiser deutscher Nation der rechtmäszige Nachfolger der Claudier, der Antonine und der Konstantine sei. Und jedenfalls bedeutete die er- neuerte Würde der Kaiser eine Erinnerung an das antike

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/66>, abgerufen am 28.03.2024.