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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
bedeutenden Antheil. Es ging die moderne Statstheorie der
modernen Statspraxis voraus. Regelmäszig begleitete jene die
Wandlungen dieser, die Wege beleuchtend. Zuweilen folgte
sie dieser nach.

Es sind hauptsächlich folgende Phasen der wissenschaft-
lichen Entwicklung hervorzuheben:

1. Der Statsbegriff der Renaissance, welcher durch
Machiavelli, Bodin, zum Theil auch durch Hugo de
Grot
vornehmlich vertreten wird, schlieszt sich noch an den
antiken Statsbegriff an, aber fängt doch an denselben umzu-
bilden.

Der Stat, wie ihn Machiavelli als das herrlichste Er-
zeugniss des menschlichen Geistes verehrt und mit Leiden-
schaft liebt, ist ihm höchstes Dasein. Unbedenklich opfert er
dem State Alles, selber die Religion und die Tugend. Sein
Stat ist aber nicht mehr Rechts- oder Verfassungsstat, wie
dieses der alte Römerstat gewesen war. Das öffentliche Recht
gilt ihm nur als ein Mittel, die Wohlfahrt des States zu för-
dern und die Machtentfaltung des States zu sichern. Sein
Statsideal ist ausschlieszlich von der Politik erfüllt und be-
stimmt. Der Stat ist für ihn weder ein sittliches noch ein
Rechtswesen, sondern nur ein politisches Wesen. Daher
ist der alleinige Maszstab aller statlichen Handlungen die
Zweckmäszigkeit. Was die Statsmacht und die Statsherr-
schaft fördert, das soll der Statsmann thun, unbekümmert um
alle Sittengesetze und um alles Recht. Was dem Statswohl
schädlich ist, das soll er vermeiden. Machiavelli hat das
grosze Verdienst, die Statswissenschaft ganz unabhängig ge-
macht zu haben von der Theologie, und den Gegensatz des
Statsrechts und der Politik aufgedeckt zu haben. Aber er hat
auch eine unsittliche und widerrechtliche Politik beschönigt,
seine klugen Rathschläge auch der Tyrannei zur Verfügung
gestellt und so das Verderbniss der Statspraxis in den letzten
Jahrhunderten mitverschuldet.


Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
bedeutenden Antheil. Es ging die moderne Statstheorie der
modernen Statspraxis voraus. Regelmäszig begleitete jene die
Wandlungen dieser, die Wege beleuchtend. Zuweilen folgte
sie dieser nach.

Es sind hauptsächlich folgende Phasen der wissenschaft-
lichen Entwicklung hervorzuheben:

1. Der Statsbegriff der Renaissance, welcher durch
Machiavelli, Bodin, zum Theil auch durch Hugo de
Grot
vornehmlich vertreten wird, schlieszt sich noch an den
antiken Statsbegriff an, aber fängt doch an denselben umzu-
bilden.

Der Stat, wie ihn Machiavelli als das herrlichste Er-
zeugniss des menschlichen Geistes verehrt und mit Leiden-
schaft liebt, ist ihm höchstes Dasein. Unbedenklich opfert er
dem State Alles, selber die Religion und die Tugend. Sein
Stat ist aber nicht mehr Rechts- oder Verfassungsstat, wie
dieses der alte Römerstat gewesen war. Das öffentliche Recht
gilt ihm nur als ein Mittel, die Wohlfahrt des States zu för-
dern und die Machtentfaltung des States zu sichern. Sein
Statsideal ist ausschlieszlich von der Politik erfüllt und be-
stimmt. Der Stat ist für ihn weder ein sittliches noch ein
Rechtswesen, sondern nur ein politisches Wesen. Daher
ist der alleinige Maszstab aller statlichen Handlungen die
Zweckmäszigkeit. Was die Statsmacht und die Statsherr-
schaft fördert, das soll der Statsmann thun, unbekümmert um
alle Sittengesetze und um alles Recht. Was dem Statswohl
schädlich ist, das soll er vermeiden. Machiavelli hat das
grosze Verdienst, die Statswissenschaft ganz unabhängig ge-
macht zu haben von der Theologie, und den Gegensatz des
Statsrechts und der Politik aufgedeckt zu haben. Aber er hat
auch eine unsittliche und widerrechtliche Politik beschönigt,
seine klugen Rathschläge auch der Tyrannei zur Verfügung
gestellt und so das Verderbniss der Statspraxis in den letzten
Jahrhunderten mitverschuldet.


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[69/0087] Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre. bedeutenden Antheil. Es ging die moderne Statstheorie der modernen Statspraxis voraus. Regelmäszig begleitete jene die Wandlungen dieser, die Wege beleuchtend. Zuweilen folgte sie dieser nach. Es sind hauptsächlich folgende Phasen der wissenschaft- lichen Entwicklung hervorzuheben: 1. Der Statsbegriff der Renaissance, welcher durch Machiavelli, Bodin, zum Theil auch durch Hugo de Grot vornehmlich vertreten wird, schlieszt sich noch an den antiken Statsbegriff an, aber fängt doch an denselben umzu- bilden. Der Stat, wie ihn Machiavelli als das herrlichste Er- zeugniss des menschlichen Geistes verehrt und mit Leiden- schaft liebt, ist ihm höchstes Dasein. Unbedenklich opfert er dem State Alles, selber die Religion und die Tugend. Sein Stat ist aber nicht mehr Rechts- oder Verfassungsstat, wie dieses der alte Römerstat gewesen war. Das öffentliche Recht gilt ihm nur als ein Mittel, die Wohlfahrt des States zu för- dern und die Machtentfaltung des States zu sichern. Sein Statsideal ist ausschlieszlich von der Politik erfüllt und be- stimmt. Der Stat ist für ihn weder ein sittliches noch ein Rechtswesen, sondern nur ein politisches Wesen. Daher ist der alleinige Maszstab aller statlichen Handlungen die Zweckmäszigkeit. Was die Statsmacht und die Statsherr- schaft fördert, das soll der Statsmann thun, unbekümmert um alle Sittengesetze und um alles Recht. Was dem Statswohl schädlich ist, das soll er vermeiden. Machiavelli hat das grosze Verdienst, die Statswissenschaft ganz unabhängig ge- macht zu haben von der Theologie, und den Gegensatz des Statsrechts und der Politik aufgedeckt zu haben. Aber er hat auch eine unsittliche und widerrechtliche Politik beschönigt, seine klugen Rathschläge auch der Tyrannei zur Verfügung gestellt und so das Verderbniss der Statspraxis in den letzten Jahrhunderten mitverschuldet.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/87>, abgerufen am 18.04.2024.