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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.

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eines Kunstrichters.
stehen; ja solte der grosse Homer sein ehrenvolles
Haupt wieder empor heben, so würde auch Zoi-
lus sich ohnverweilt aus dem Grabe aufrichten
müssen. Der Neid verfolget das Verdienst,
als dessen Schatten; aber er zeiget auch, wie
der Schatten, ein Wesen an. Denn ein benei-
deter Wiz ist wie die verfinsterte Sonne. Sie
beweiset einen groben Stoff an dem Cörper, der
ihr entgegen steht, und nicht an ihrem eigenen.
Wenn diese Sonne gar zu kräftig strahlet, so zie-
het sie Dünste in die Höhe, die Anfangs ihren
Glanz verdunkeln. Aber eben diese Wolken ver-
herrlichen zulezt ihre Reise, sie zeigen uns neue
Schönheiten im Wiederscheine, und vermehren
den Tag.

Sey du der erste, ein wahres Verdienst zu
loben. Wer warten will, biß es jedermann rüh-
met, der kömmt zu spät mit seinem Lobe. Das
Leben unsrer heutigen Reimen währet leider ohne
das zu kurtz. Wie billich ist es denn, daß wir
sie solches desto eher geniessen lassen. Die gülde-
ne Zeit erscheinet nun nicht mehr, da die alten
Weisen, die Väter des Wizes, über tausend Jah-
re lebten. Ein langer Nachruhm, unser anderes
Leben, wird nun umsonst gehofft. Sechzig eini-
ge Jahre sind alles, worauf wir trozen können.
Unsere Söhne entdecken die Mängel in ihrer Vä-
ter Sprache, und was jezt Chaucer ist, wird
Dryden werden. So bringt oft der getreue Pin-
sel einen trefflichen Gedanken des Malers ins
Werk. Eine neue Welt entstehet auf des Künst-
lers Gebot, und die Natur wartet auf die Be-

wegung
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eines Kunſtrichters.
ſtehen; ja ſolte der groſſe Homer ſein ehrenvolles
Haupt wieder empor heben, ſo wuͤrde auch Zoi-
lus ſich ohnverweilt aus dem Grabe aufrichten
muͤſſen. Der Neid verfolget das Verdienſt,
als deſſen Schatten; aber er zeiget auch, wie
der Schatten, ein Weſen an. Denn ein benei-
deter Wiz iſt wie die verfinſterte Sonne. Sie
beweiſet einen groben Stoff an dem Coͤrper, der
ihr entgegen ſteht, und nicht an ihrem eigenen.
Wenn dieſe Sonne gar zu kraͤftig ſtrahlet, ſo zie-
het ſie Duͤnſte in die Hoͤhe, die Anfangs ihren
Glanz verdunkeln. Aber eben dieſe Wolken ver-
herrlichen zulezt ihre Reiſe, ſie zeigen uns neue
Schoͤnheiten im Wiederſcheine, und vermehren
den Tag.

Sey du der erſte, ein wahres Verdienſt zu
loben. Wer warten will, biß es jedermann ruͤh-
met, der koͤmmt zu ſpaͤt mit ſeinem Lobe. Das
Leben unſrer heutigen Reimen waͤhret leider ohne
das zu kurtz. Wie billich iſt es denn, daß wir
ſie ſolches deſto eher genieſſen laſſen. Die guͤlde-
ne Zeit erſcheinet nun nicht mehr, da die alten
Weiſen, die Vaͤter des Wizes, uͤber tauſend Jah-
re lebten. Ein langer Nachruhm, unſer anderes
Leben, wird nun umſonſt gehofft. Sechzig eini-
ge Jahre ſind alles, worauf wir trozen koͤnnen.
Unſere Soͤhne entdecken die Maͤngel in ihrer Vaͤ-
ter Sprache, und was jezt Chaucer iſt, wird
Dryden werden. So bringt oft der getreue Pin-
ſel einen trefflichen Gedanken des Malers ins
Werk. Eine neue Welt entſtehet auf des Kuͤnſt-
lers Gebot, und die Natur wartet auf die Be-

wegung
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[73/0089] eines Kunſtrichters. ſtehen; ja ſolte der groſſe Homer ſein ehrenvolles Haupt wieder empor heben, ſo wuͤrde auch Zoi- lus ſich ohnverweilt aus dem Grabe aufrichten muͤſſen. Der Neid verfolget das Verdienſt, als deſſen Schatten; aber er zeiget auch, wie der Schatten, ein Weſen an. Denn ein benei- deter Wiz iſt wie die verfinſterte Sonne. Sie beweiſet einen groben Stoff an dem Coͤrper, der ihr entgegen ſteht, und nicht an ihrem eigenen. Wenn dieſe Sonne gar zu kraͤftig ſtrahlet, ſo zie- het ſie Duͤnſte in die Hoͤhe, die Anfangs ihren Glanz verdunkeln. Aber eben dieſe Wolken ver- herrlichen zulezt ihre Reiſe, ſie zeigen uns neue Schoͤnheiten im Wiederſcheine, und vermehren den Tag. Sey du der erſte, ein wahres Verdienſt zu loben. Wer warten will, biß es jedermann ruͤh- met, der koͤmmt zu ſpaͤt mit ſeinem Lobe. Das Leben unſrer heutigen Reimen waͤhret leider ohne das zu kurtz. Wie billich iſt es denn, daß wir ſie ſolches deſto eher genieſſen laſſen. Die guͤlde- ne Zeit erſcheinet nun nicht mehr, da die alten Weiſen, die Vaͤter des Wizes, uͤber tauſend Jah- re lebten. Ein langer Nachruhm, unſer anderes Leben, wird nun umſonſt gehofft. Sechzig eini- ge Jahre ſind alles, worauf wir trozen koͤnnen. Unſere Soͤhne entdecken die Maͤngel in ihrer Vaͤ- ter Sprache, und was jezt Chaucer iſt, wird Dryden werden. So bringt oft der getreue Pin- ſel einen trefflichen Gedanken des Malers ins Werk. Eine neue Welt entſtehet auf des Kuͤnſt- lers Gebot, und die Natur wartet auf die Be- wegung E 5

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/89>, abgerufen am 28.03.2024.