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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 7. Zürich, 1743.

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für die epische Poesie.
daß er allein in seiner eigenen Sprache schulge-
recht redet; auch daß er nur diejenigen Sitten
treulich nachmacht, welche er in ihren Originalen
gekannt und mit ihnen Umgang gehabt hat.

Dieser Grundsatz scheint scharf, und doch wird
man in der Untersuchung finden, daß er in der
Erfahrung gegründet ist.

Aber die Wahrheit desselben wird am klärsten
erhellen, wenn wir seinen Einfluß in dem Umgan-
ge und der Aufführung betrachten. Der, wel-
cher keine Sitten als seine eigenen an sich nimmt,
wird es auf einen höhern Grad der Trefflichkeit
bringen, als wenn er sich vornehmen wollte, eines
andern Menschen Art nachzuahmen, ob dieser
gleich seiner eigenen sowohl in der Sprache als
in dem Betragen und der Stellung vorzuziehen
ist.

Die Wahrheit zu sagen, so sind wir mit sehr
eingeschrenkten Gaben gebohren, unser Gemüth
ist nicht fähig, sich von zwo Gattungen Sitten
Meister zu machen, oder mit einer Fertigkeit sich
in verschiedene Lebensarten zu richten. Unsere Ge-
sellschaft, Aufferziehung, und Umstände machen
tiefe Eindrüke, und formieren in uns einen Cha-
racter, den wir nach der Hand mit schwerer Mü-
he wieder ablegen können. Nicht allein die Sit-
ten der Zeiten und der Nation, worinnen wir leben,
sondern unserer Stadt und Verwandtschaft han-
gen uns an, und verrathen uns bey jeder Wen-
dung, wenn wir uns vermeinen zu verstellen, und
gerne vor fremde angesehen werden wollten. Die-
se verstehen wir und können sie vollkommen wohl
schildern.

Dem-

fuͤr die epiſche Poeſie.
daß er allein in ſeiner eigenen Sprache ſchulge-
recht redet; auch daß er nur diejenigen Sitten
treulich nachmacht, welche er in ihren Originalen
gekannt und mit ihnen Umgang gehabt hat.

Dieſer Grundſatz ſcheint ſcharf, und doch wird
man in der Unterſuchung finden, daß er in der
Erfahrung gegruͤndet iſt.

Aber die Wahrheit deſſelben wird am klaͤrſten
erhellen, wenn wir ſeinen Einfluß in dem Umgan-
ge und der Auffuͤhrung betrachten. Der, wel-
cher keine Sitten als ſeine eigenen an ſich nimmt,
wird es auf einen hoͤhern Grad der Trefflichkeit
bringen, als wenn er ſich vornehmen wollte, eines
andern Menſchen Art nachzuahmen, ob dieſer
gleich ſeiner eigenen ſowohl in der Sprache als
in dem Betragen und der Stellung vorzuziehen
iſt.

Die Wahrheit zu ſagen, ſo ſind wir mit ſehr
eingeſchrenkten Gaben gebohren, unſer Gemuͤth
iſt nicht faͤhig, ſich von zwo Gattungen Sitten
Meiſter zu machen, oder mit einer Fertigkeit ſich
in verſchiedene Lebensarten zu richten. Unſere Ge-
ſellſchaft, Aufferziehung, und Umſtaͤnde machen
tiefe Eindruͤke, und formieren in uns einen Cha-
racter, den wir nach der Hand mit ſchwerer Muͤ-
he wieder ablegen koͤnnen. Nicht allein die Sit-
ten der Zeiten und der Nation, worinnen wir leben,
ſondern unſerer Stadt und Verwandtſchaft han-
gen uns an, und verrathen uns bey jeder Wen-
dung, wenn wir uns vermeinen zu verſtellen, und
gerne vor fremde angeſehen werden wollten. Die-
ſe verſtehen wir und koͤnnen ſie vollkommen wohl
ſchildern.

Dem-
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[13/0013] fuͤr die epiſche Poeſie. daß er allein in ſeiner eigenen Sprache ſchulge- recht redet; auch daß er nur diejenigen Sitten treulich nachmacht, welche er in ihren Originalen gekannt und mit ihnen Umgang gehabt hat. Dieſer Grundſatz ſcheint ſcharf, und doch wird man in der Unterſuchung finden, daß er in der Erfahrung gegruͤndet iſt. Aber die Wahrheit deſſelben wird am klaͤrſten erhellen, wenn wir ſeinen Einfluß in dem Umgan- ge und der Auffuͤhrung betrachten. Der, wel- cher keine Sitten als ſeine eigenen an ſich nimmt, wird es auf einen hoͤhern Grad der Trefflichkeit bringen, als wenn er ſich vornehmen wollte, eines andern Menſchen Art nachzuahmen, ob dieſer gleich ſeiner eigenen ſowohl in der Sprache als in dem Betragen und der Stellung vorzuziehen iſt. Die Wahrheit zu ſagen, ſo ſind wir mit ſehr eingeſchrenkten Gaben gebohren, unſer Gemuͤth iſt nicht faͤhig, ſich von zwo Gattungen Sitten Meiſter zu machen, oder mit einer Fertigkeit ſich in verſchiedene Lebensarten zu richten. Unſere Ge- ſellſchaft, Aufferziehung, und Umſtaͤnde machen tiefe Eindruͤke, und formieren in uns einen Cha- racter, den wir nach der Hand mit ſchwerer Muͤ- he wieder ablegen koͤnnen. Nicht allein die Sit- ten der Zeiten und der Nation, worinnen wir leben, ſondern unſerer Stadt und Verwandtſchaft han- gen uns an, und verrathen uns bey jeder Wen- dung, wenn wir uns vermeinen zu verſtellen, und gerne vor fremde angeſehen werden wollten. Die- ſe verſtehen wir und koͤnnen ſie vollkommen wohl ſchildern. Dem-

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 7. Zürich, 1743, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung07_1743/13>, abgerufen am 19.04.2024.