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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 7. Zürich, 1743.

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Von den glücklichen Umständen
len Reisen, und weitläuftigen Erfahrungen, die
einer in eigener Person gemachet hat. Jn einem
reisenden Leben hat man öfters Gelegenheit mit
den Originalen seiner Abrisse, und Erdichtun-
gen bekannt zu werden; diese Schildereyen mö-
gen materialisch oder moralisch seyn, so entsteht
ihre Trefflichkeit daher, daß sie der Natur und
der Wahrheit ähnlich seyn. Aber viele und
weite Reisen fallen wenigen Leuten vor; am sel-
tensten Leuten, die eine poetische Geistesart haben.
Diese sind gemeiniglich nicht die gesundesten, sie
sind zu zart, die Beschwerlichkeiten auszustehen,
und sich in die Gefährlichkeiten zu wagen, wel-
che in langen Reisen unvermeidlich sind.

Jch meine nicht zu irren, wenn ich behaupten
darf, daß Homers Armuth, die ihn nöthigte,
ein umschweifendes Leben zu führen, als ein ir-
render Barde, in Ansehen seiner Poesie ein gros-
ses Glück für ihn gewesen. Homer blieb in ei-
ner jeden Stadt so lange als er nöthig hatte ihre
Sitten zu sehen, ohne daß er seine eigenen in
dieselben umgösse. Er führte weder ein Stadt-
noch ein Landleben, und war in dieser Betrach-
tung wahrlich ein Weltbürger. Wenn ein Mensch
Kälte und Müdigkeit ausgestanden, und hernach
wieder erquiket worden, stellet sich die Freude
mit Macht bey ihm ein, sein Hertz wird weiter,
seine Lebensgeister fliessen strenger, und wenn ein
poetischer Geist bey ihm ist, wird solcher gewißlich
loosbrechen. Die poetischen Landfahrer, wie Ho-
mer einer war, müssen gesunde Leute seyn, und
sehr rege und sichere Fühlungen haben. Jhre

Cörper

Von den gluͤcklichen Umſtaͤnden
len Reiſen, und weitlaͤuftigen Erfahrungen, die
einer in eigener Perſon gemachet hat. Jn einem
reiſenden Leben hat man oͤfters Gelegenheit mit
den Originalen ſeiner Abriſſe, und Erdichtun-
gen bekannt zu werden; dieſe Schildereyen moͤ-
gen materialiſch oder moraliſch ſeyn, ſo entſteht
ihre Trefflichkeit daher, daß ſie der Natur und
der Wahrheit aͤhnlich ſeyn. Aber viele und
weite Reiſen fallen wenigen Leuten vor; am ſel-
tenſten Leuten, die eine poetiſche Geiſtesart haben.
Dieſe ſind gemeiniglich nicht die geſundeſten, ſie
ſind zu zart, die Beſchwerlichkeiten auszuſtehen,
und ſich in die Gefaͤhrlichkeiten zu wagen, wel-
che in langen Reiſen unvermeidlich ſind.

Jch meine nicht zu irren, wenn ich behaupten
darf, daß Homers Armuth, die ihn noͤthigte,
ein umſchweifendes Leben zu fuͤhren, als ein ir-
render Barde, in Anſehen ſeiner Poeſie ein groſ-
ſes Gluͤck fuͤr ihn geweſen. Homer blieb in ei-
ner jeden Stadt ſo lange als er noͤthig hatte ihre
Sitten zu ſehen, ohne daß er ſeine eigenen in
dieſelben umgoͤſſe. Er fuͤhrte weder ein Stadt-
noch ein Landleben, und war in dieſer Betrach-
tung wahrlich ein Weltbuͤrger. Wenn ein Menſch
Kaͤlte und Muͤdigkeit ausgeſtanden, und hernach
wieder erquiket worden, ſtellet ſich die Freude
mit Macht bey ihm ein, ſein Hertz wird weiter,
ſeine Lebensgeiſter flieſſen ſtrenger, und wenn ein
poetiſcher Geiſt bey ihm iſt, wird ſolcher gewißlich
loosbrechen. Die poetiſchen Landfahrer, wie Ho-
mer einer war, muͤſſen geſunde Leute ſeyn, und
ſehr rege und ſichere Fuͤhlungen haben. Jhre

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[22/0022] Von den gluͤcklichen Umſtaͤnden len Reiſen, und weitlaͤuftigen Erfahrungen, die einer in eigener Perſon gemachet hat. Jn einem reiſenden Leben hat man oͤfters Gelegenheit mit den Originalen ſeiner Abriſſe, und Erdichtun- gen bekannt zu werden; dieſe Schildereyen moͤ- gen materialiſch oder moraliſch ſeyn, ſo entſteht ihre Trefflichkeit daher, daß ſie der Natur und der Wahrheit aͤhnlich ſeyn. Aber viele und weite Reiſen fallen wenigen Leuten vor; am ſel- tenſten Leuten, die eine poetiſche Geiſtesart haben. Dieſe ſind gemeiniglich nicht die geſundeſten, ſie ſind zu zart, die Beſchwerlichkeiten auszuſtehen, und ſich in die Gefaͤhrlichkeiten zu wagen, wel- che in langen Reiſen unvermeidlich ſind. Jch meine nicht zu irren, wenn ich behaupten darf, daß Homers Armuth, die ihn noͤthigte, ein umſchweifendes Leben zu fuͤhren, als ein ir- render Barde, in Anſehen ſeiner Poeſie ein groſ- ſes Gluͤck fuͤr ihn geweſen. Homer blieb in ei- ner jeden Stadt ſo lange als er noͤthig hatte ihre Sitten zu ſehen, ohne daß er ſeine eigenen in dieſelben umgoͤſſe. Er fuͤhrte weder ein Stadt- noch ein Landleben, und war in dieſer Betrach- tung wahrlich ein Weltbuͤrger. Wenn ein Menſch Kaͤlte und Muͤdigkeit ausgeſtanden, und hernach wieder erquiket worden, ſtellet ſich die Freude mit Macht bey ihm ein, ſein Hertz wird weiter, ſeine Lebensgeiſter flieſſen ſtrenger, und wenn ein poetiſcher Geiſt bey ihm iſt, wird ſolcher gewißlich loosbrechen. Die poetiſchen Landfahrer, wie Ho- mer einer war, muͤſſen geſunde Leute ſeyn, und ſehr rege und ſichere Fuͤhlungen haben. Jhre Coͤrper

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 7. Zürich, 1743, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung07_1743/22>, abgerufen am 29.03.2024.