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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 7. Zürich, 1743.

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für die epische Poesie.
ten entspringt. Sie verzüken uns, und man kan
ihnen nicht widerstehen. Dieselben zeigen uns die
Bedürffniß und die Empfindungen des Menschen
am deutlichsten. Sie geben uns das, was ein un-
verstelltes Gemüthe bewegt, und die Wege, die
es braucht sich zu vergnügen, aufrichtig heim.
Güte und Ehrlichkeit haben an diesem Ergetzen
ihren Antheil, denn wir legen eine Liebe an diese
Leute und haben lieber mit ihnen zu schaffen, als
mit spitzfündigen, oder zweyzüngigen Charactern.
Also, wenn die verschiedenen Werke, die zu dem
Bau eines Hauses, oder eines Schiffes erfodert
werden, oder die zur Anbauung eines Feldes
oder Verfertigung eines Stückes von Gewehr ge-
hören, mit Absicht auf die Empfindungen und den
Fleiß des Manns, der damit beschäftigt ist, be-
schrieben werden, so geben sie uns ein hertzliches
Ergetzen, weil wir eben dergleichen fühlen. Un-
schuld, sagen wir, ist schön; die Abrisse derselben
können nicht anders, als entzücken. Zeugen des-
sen sind die wenigen Züge von dieser Art in Dry-
dens Eroberung Mexico, und der bezauberten
Jnsel.

Dem gemäß finden wir bey Homer sehr klei-
ne Umstände von Häusern, Tischen, und Lebens-
arten der Alten beschrieben, und wir lesen diesel-
ben mit Ergetzen. Aber wenn wir unsre eigenen Ge-
wohnheiten betrachten, finden wir im Gegentheil,
daß wir, wann wir in dem höhern Tone poetisieren
wollen, vor allen Dingen unsern alltäglichen Wan-
del verlernen müssen; wir müssen unser Schlaf-
fen, Essen, und Zeitvertreib vergessen, wir sehen

uns
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fuͤr die epiſche Poeſie.
ten entſpringt. Sie verzuͤken uns, und man kan
ihnen nicht widerſtehen. Dieſelben zeigen uns die
Beduͤrffniß und die Empfindungen des Menſchen
am deutlichſten. Sie geben uns das, was ein un-
verſtelltes Gemuͤthe bewegt, und die Wege, die
es braucht ſich zu vergnuͤgen, aufrichtig heim.
Guͤte und Ehrlichkeit haben an dieſem Ergetzen
ihren Antheil, denn wir legen eine Liebe an dieſe
Leute und haben lieber mit ihnen zu ſchaffen, als
mit ſpitzfuͤndigen, oder zweyzuͤngigen Charactern.
Alſo, wenn die verſchiedenen Werke, die zu dem
Bau eines Hauſes, oder eines Schiffes erfodert
werden, oder die zur Anbauung eines Feldes
oder Verfertigung eines Stuͤckes von Gewehr ge-
hoͤren, mit Abſicht auf die Empfindungen und den
Fleiß des Manns, der damit beſchaͤftigt iſt, be-
ſchrieben werden, ſo geben ſie uns ein hertzliches
Ergetzen, weil wir eben dergleichen fuͤhlen. Un-
ſchuld, ſagen wir, iſt ſchoͤn; die Abriſſe derſelben
koͤnnen nicht anders, als entzuͤcken. Zeugen deſ-
ſen ſind die wenigen Zuͤge von dieſer Art in Dry-
dens Eroberung Mexico, und der bezauberten
Jnſel.

Dem gemaͤß finden wir bey Homer ſehr klei-
ne Umſtaͤnde von Haͤuſern, Tiſchen, und Lebens-
arten der Alten beſchrieben, und wir leſen dieſel-
ben mit Ergetzen. Aber wenn wir unſre eigenen Ge-
wohnheiten betrachten, finden wir im Gegentheil,
daß wir, wann wir in dem hoͤhern Tone poetiſieren
wollen, vor allen Dingen unſern alltaͤglichen Wan-
del verlernen muͤſſen; wir muͤſſen unſer Schlaf-
fen, Eſſen, und Zeitvertreib vergeſſen, wir ſehen

uns
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[9/0009] fuͤr die epiſche Poeſie. ten entſpringt. Sie verzuͤken uns, und man kan ihnen nicht widerſtehen. Dieſelben zeigen uns die Beduͤrffniß und die Empfindungen des Menſchen am deutlichſten. Sie geben uns das, was ein un- verſtelltes Gemuͤthe bewegt, und die Wege, die es braucht ſich zu vergnuͤgen, aufrichtig heim. Guͤte und Ehrlichkeit haben an dieſem Ergetzen ihren Antheil, denn wir legen eine Liebe an dieſe Leute und haben lieber mit ihnen zu ſchaffen, als mit ſpitzfuͤndigen, oder zweyzuͤngigen Charactern. Alſo, wenn die verſchiedenen Werke, die zu dem Bau eines Hauſes, oder eines Schiffes erfodert werden, oder die zur Anbauung eines Feldes oder Verfertigung eines Stuͤckes von Gewehr ge- hoͤren, mit Abſicht auf die Empfindungen und den Fleiß des Manns, der damit beſchaͤftigt iſt, be- ſchrieben werden, ſo geben ſie uns ein hertzliches Ergetzen, weil wir eben dergleichen fuͤhlen. Un- ſchuld, ſagen wir, iſt ſchoͤn; die Abriſſe derſelben koͤnnen nicht anders, als entzuͤcken. Zeugen deſ- ſen ſind die wenigen Zuͤge von dieſer Art in Dry- dens Eroberung Mexico, und der bezauberten Jnſel. Dem gemaͤß finden wir bey Homer ſehr klei- ne Umſtaͤnde von Haͤuſern, Tiſchen, und Lebens- arten der Alten beſchrieben, und wir leſen dieſel- ben mit Ergetzen. Aber wenn wir unſre eigenen Ge- wohnheiten betrachten, finden wir im Gegentheil, daß wir, wann wir in dem hoͤhern Tone poetiſieren wollen, vor allen Dingen unſern alltaͤglichen Wan- del verlernen muͤſſen; wir muͤſſen unſer Schlaf- fen, Eſſen, und Zeitvertreib vergeſſen, wir ſehen uns A 5

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 7. Zürich, 1743, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung07_1743/9>, abgerufen am 29.03.2024.