Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Madonna Rafaels, mit dem Leibe, der in all seiner
Schöne doch noch das uralte organische Prinzip der Zwei¬
geschlechtlichkeit malt, mit dem Kinde, das die Mutter an¬
deutet, -- sie schwebt zugleich als eine freie Geisteszeugung
wie in einer höheren, einer Überwelt.

So ist auch die Liebe heraufgewandelt in der Geschichte
der Menschheit wie eine immer mehr befreite Lichtgestalt, unter
der das Tierische, die Schwere des Tierischen, sank und sank.

Der Mensch ward Mensch.

Ein oberes Stockwerk der Dinge baute sich in ihm selbst
auf seiner Tierheit wie auf einer Granitquader auf, die fortan
nur noch roher Baugrund war.

Das ragt nun wie ein Tempel, dessen Marmorschnee in
ein verklärtes Blau steigt.

Es giebt keine echten Vergleichungsbilder dafür. Aus der
Fülle der Naturformen, vom fernen, grünlich glimmenden
Nebelflecke des Alls bis zur hartgelben Flechte des irdischen
Granitgebirges, wächst unserem Wissen nur eine einzige Mensch¬
heit. Ob auf irgend einem anderen, rot oder weiß herüber¬
strahlenden Planeten ähnliches sich im Banne der gleichen
Kräfte aufgebaut: die Kunde schweigt, -- kaum daß die Ahnung
zu wandern wagt. Wie eine endlose nackte Wüste zieht sich
um unseren "Lebensplaneten" nach allen Seiten in die Sternen¬
räume hinein unsere Unwissenheit und schafft uns jedenfalls
eine praktische Einsamkeit, vor der jeder Vergleich versagt.

Aber vor Augen steht, wie diese eine einzige, unvergleich¬
bare Menschheit auf diesem ihrem Planeten die Begriffe ver¬
wandelt hat. Auch den Begriff der Liebe.

Er ist herausgewachsen aus sich selbst, über sich selbst.
Im höchsten Sinne, wie diese Madonna ihn symbolisch ganz
zu fassen sucht, steht er da in einer Größe, gegen die die
Liebe des Tieres sich stellt, etwa wie das schlichte Lager aus
Zweigen, das der rothaarige Orang Utan sich im Baumdickicht
Borneos bereitet, gegen den Parthenon des Phidias oder die

Die Madonna Rafaels, mit dem Leibe, der in all ſeiner
Schöne doch noch das uralte organiſche Prinzip der Zwei¬
geſchlechtlichkeit malt, mit dem Kinde, das die Mutter an¬
deutet, — ſie ſchwebt zugleich als eine freie Geiſteszeugung
wie in einer höheren, einer Überwelt.

So iſt auch die Liebe heraufgewandelt in der Geſchichte
der Menſchheit wie eine immer mehr befreite Lichtgeſtalt, unter
der das Tieriſche, die Schwere des Tieriſchen, ſank und ſank.

Der Menſch ward Menſch.

Ein oberes Stockwerk der Dinge baute ſich in ihm ſelbſt
auf ſeiner Tierheit wie auf einer Granitquader auf, die fortan
nur noch roher Baugrund war.

Das ragt nun wie ein Tempel, deſſen Marmorſchnee in
ein verklärtes Blau ſteigt.

Es giebt keine echten Vergleichungsbilder dafür. Aus der
Fülle der Naturformen, vom fernen, grünlich glimmenden
Nebelflecke des Alls bis zur hartgelben Flechte des irdiſchen
Granitgebirges, wächſt unſerem Wiſſen nur eine einzige Menſch¬
heit. Ob auf irgend einem anderen, rot oder weiß herüber¬
ſtrahlenden Planeten ähnliches ſich im Banne der gleichen
Kräfte aufgebaut: die Kunde ſchweigt, — kaum daß die Ahnung
zu wandern wagt. Wie eine endloſe nackte Wüſte zieht ſich
um unſeren „Lebensplaneten“ nach allen Seiten in die Sternen¬
räume hinein unſere Unwiſſenheit und ſchafft uns jedenfalls
eine praktiſche Einſamkeit, vor der jeder Vergleich verſagt.

Aber vor Augen ſteht, wie dieſe eine einzige, unvergleich¬
bare Menſchheit auf dieſem ihrem Planeten die Begriffe ver¬
wandelt hat. Auch den Begriff der Liebe.

Er iſt herausgewachſen aus ſich ſelbſt, über ſich ſelbſt.
Im höchſten Sinne, wie dieſe Madonna ihn ſymboliſch ganz
zu faſſen ſucht, ſteht er da in einer Größe, gegen die die
Liebe des Tieres ſich ſtellt, etwa wie das ſchlichte Lager aus
Zweigen, das der rothaarige Orang Utan ſich im Baumdickicht
Borneos bereitet, gegen den Parthenon des Phidias oder die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0045" n="29"/>
        <p>Die Madonna Rafaels, mit dem Leibe, der in all &#x017F;einer<lb/>
Schöne doch noch das uralte organi&#x017F;che Prinzip der Zwei¬<lb/>
ge&#x017F;chlechtlichkeit malt, mit dem Kinde, das die Mutter an¬<lb/>
deutet, &#x2014; &#x017F;ie &#x017F;chwebt zugleich als eine freie Gei&#x017F;teszeugung<lb/>
wie in einer höheren, einer Überwelt.</p><lb/>
        <p>So i&#x017F;t auch die Liebe heraufgewandelt in der Ge&#x017F;chichte<lb/>
der Men&#x017F;chheit wie eine immer mehr befreite Lichtge&#x017F;talt, unter<lb/>
der das Tieri&#x017F;che, die Schwere des Tieri&#x017F;chen, &#x017F;ank und &#x017F;ank.</p><lb/>
        <p>Der Men&#x017F;ch ward Men&#x017F;ch.</p><lb/>
        <p>Ein oberes Stockwerk der Dinge baute &#x017F;ich in ihm &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
auf &#x017F;einer Tierheit wie auf einer Granitquader auf, die fortan<lb/>
nur noch roher Baugrund war.</p><lb/>
        <p>Das ragt nun wie ein Tempel, de&#x017F;&#x017F;en Marmor&#x017F;chnee in<lb/>
ein verklärtes Blau &#x017F;teigt.</p><lb/>
        <p>Es giebt keine echten Vergleichungsbilder dafür. Aus der<lb/>
Fülle der Naturformen, vom fernen, grünlich glimmenden<lb/>
Nebelflecke des Alls bis zur hartgelben Flechte des irdi&#x017F;chen<lb/>
Granitgebirges, wäch&#x017F;t un&#x017F;erem Wi&#x017F;&#x017F;en nur eine einzige Men&#x017F;ch¬<lb/>
heit. Ob auf irgend einem anderen, rot oder weiß herüber¬<lb/>
&#x017F;trahlenden Planeten ähnliches &#x017F;ich im Banne der gleichen<lb/>
Kräfte aufgebaut: die Kunde &#x017F;chweigt, &#x2014; kaum daß die Ahnung<lb/>
zu wandern wagt. Wie eine endlo&#x017F;e nackte Wü&#x017F;te zieht &#x017F;ich<lb/>
um un&#x017F;eren &#x201E;Lebensplaneten&#x201C; nach allen Seiten in die Sternen¬<lb/>
räume hinein un&#x017F;ere Unwi&#x017F;&#x017F;enheit und &#x017F;chafft uns jedenfalls<lb/>
eine prakti&#x017F;che Ein&#x017F;amkeit, vor der jeder Vergleich ver&#x017F;agt.</p><lb/>
        <p>Aber vor Augen &#x017F;teht, wie die&#x017F;e eine einzige, unvergleich¬<lb/>
bare Men&#x017F;chheit auf die&#x017F;em ihrem Planeten die Begriffe ver¬<lb/>
wandelt hat. Auch den Begriff der Liebe.</p><lb/>
        <p>Er i&#x017F;t herausgewach&#x017F;en aus &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, über &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t.<lb/>
Im höch&#x017F;ten Sinne, wie die&#x017F;e Madonna ihn &#x017F;ymboli&#x017F;ch ganz<lb/>
zu fa&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ucht, &#x017F;teht er da in einer Größe, gegen die die<lb/>
Liebe des Tieres &#x017F;ich &#x017F;tellt, etwa wie das &#x017F;chlichte Lager aus<lb/>
Zweigen, das der rothaarige Orang Utan &#x017F;ich im Baumdickicht<lb/>
Borneos bereitet, gegen den Parthenon des Phidias oder die<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[29/0045] Die Madonna Rafaels, mit dem Leibe, der in all ſeiner Schöne doch noch das uralte organiſche Prinzip der Zwei¬ geſchlechtlichkeit malt, mit dem Kinde, das die Mutter an¬ deutet, — ſie ſchwebt zugleich als eine freie Geiſteszeugung wie in einer höheren, einer Überwelt. So iſt auch die Liebe heraufgewandelt in der Geſchichte der Menſchheit wie eine immer mehr befreite Lichtgeſtalt, unter der das Tieriſche, die Schwere des Tieriſchen, ſank und ſank. Der Menſch ward Menſch. Ein oberes Stockwerk der Dinge baute ſich in ihm ſelbſt auf ſeiner Tierheit wie auf einer Granitquader auf, die fortan nur noch roher Baugrund war. Das ragt nun wie ein Tempel, deſſen Marmorſchnee in ein verklärtes Blau ſteigt. Es giebt keine echten Vergleichungsbilder dafür. Aus der Fülle der Naturformen, vom fernen, grünlich glimmenden Nebelflecke des Alls bis zur hartgelben Flechte des irdiſchen Granitgebirges, wächſt unſerem Wiſſen nur eine einzige Menſch¬ heit. Ob auf irgend einem anderen, rot oder weiß herüber¬ ſtrahlenden Planeten ähnliches ſich im Banne der gleichen Kräfte aufgebaut: die Kunde ſchweigt, — kaum daß die Ahnung zu wandern wagt. Wie eine endloſe nackte Wüſte zieht ſich um unſeren „Lebensplaneten“ nach allen Seiten in die Sternen¬ räume hinein unſere Unwiſſenheit und ſchafft uns jedenfalls eine praktiſche Einſamkeit, vor der jeder Vergleich verſagt. Aber vor Augen ſteht, wie dieſe eine einzige, unvergleich¬ bare Menſchheit auf dieſem ihrem Planeten die Begriffe ver¬ wandelt hat. Auch den Begriff der Liebe. Er iſt herausgewachſen aus ſich ſelbſt, über ſich ſelbſt. Im höchſten Sinne, wie dieſe Madonna ihn ſymboliſch ganz zu faſſen ſucht, ſteht er da in einer Größe, gegen die die Liebe des Tieres ſich ſtellt, etwa wie das ſchlichte Lager aus Zweigen, das der rothaarige Orang Utan ſich im Baumdickicht Borneos bereitet, gegen den Parthenon des Phidias oder die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/45
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/45>, abgerufen am 29.03.2024.