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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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fliege zeugen läßt. Es ist zugleich ein Symbol der Menschen¬
liebe. In jenem "nicht mehr bloß" des Kindes erscheint die
Liebe wie losgelöst von ihrem ursprünglichen Stamm, befreit
zu einem höheren Dasein.

Es giebt niedere Seetiere im Meeresgrund, aus deren
Ei ein festgewachsener Polyp entspringt; in einer gewissen Reife
aber löst sich die Krone dieses Polypen plötzlich frei ab und
schwimmt, ein entzückend schöner Körper, durchsichtig wie eine
kornblumblaue Glasglocke und bei Nacht von eigenem Lichte
wie ein goldener Stern erhellt, unbehindert in die Weite des
Ozeans hinaus. So ist es auch mit der Liebe. Als sei hier
ein jugendlich unreifes Wurzelstadium durchgerissen zu fessel¬
loser, unendlich reicherer Wanderschaft. Die Liebe wandert, --
wandert als ein Geisteswert in alle Lande, in die ganze
"Menschheit" hinaus. Statt des einfachen Geschlechtsverbandes
erstrebt sie den sozialen Verband aller Menschenindividuen zu
gemeinsamer Arbeit, gemeinsamer Hilfe zum Glück.

Rafael, indem er dieses Kind mit den großen flammen¬
den Menschheitsaugen schuf, diesen Augen, die nie ein Kind
getragen hat und die nur möglich sind, wenn symbolisch aus
diesem Kindesblick das erwachende Auge der Menschheit sich zu
dem Beschauer wie eine ungeheure Knospe auseinanderschließt:
er dachte an einen ganz bestimmten Vorgang aus der Ge¬
schichte des Menschen auf Erden. Sein Blick schweifte zurück
über anderthalb Jahrtausende. Er haftete im östlichsten
Winkel des Mittelmeeres, -- dort, wo ein kleines, schmales
Land sich zwischen Meer und Wüste schiebt. Es ist das Meer,
über das die Phönikier einst nach Westen Kulturgold ver¬
frachtet haben. Die Wüste, über deren weißer Fläche noch
früher, im Anfang aller Überlieferung, von Osten her die
ersten Kulturvölker wie Schemen aus dem Unbekannten auf¬
gestiegen sind.

Und in dem Lande fand der Blick einen grünen Palmen¬
hügel über einem glitzernden blauen See. Auf dem Hügel

fliege zeugen läßt. Es iſt zugleich ein Symbol der Menſchen¬
liebe. In jenem „nicht mehr bloß“ des Kindes erſcheint die
Liebe wie losgelöſt von ihrem urſprünglichen Stamm, befreit
zu einem höheren Daſein.

Es giebt niedere Seetiere im Meeresgrund, aus deren
Ei ein feſtgewachſener Polyp entſpringt; in einer gewiſſen Reife
aber löſt ſich die Krone dieſes Polypen plötzlich frei ab und
ſchwimmt, ein entzückend ſchöner Körper, durchſichtig wie eine
kornblumblaue Glasglocke und bei Nacht von eigenem Lichte
wie ein goldener Stern erhellt, unbehindert in die Weite des
Ozeans hinaus. So iſt es auch mit der Liebe. Als ſei hier
ein jugendlich unreifes Wurzelſtadium durchgeriſſen zu feſſel¬
loſer, unendlich reicherer Wanderſchaft. Die Liebe wandert, —
wandert als ein Geiſteswert in alle Lande, in die ganze
„Menſchheit“ hinaus. Statt des einfachen Geſchlechtsverbandes
erſtrebt ſie den ſozialen Verband aller Menſchenindividuen zu
gemeinſamer Arbeit, gemeinſamer Hilfe zum Glück.

Rafael, indem er dieſes Kind mit den großen flammen¬
den Menſchheitsaugen ſchuf, dieſen Augen, die nie ein Kind
getragen hat und die nur möglich ſind, wenn ſymboliſch aus
dieſem Kindesblick das erwachende Auge der Menſchheit ſich zu
dem Beſchauer wie eine ungeheure Knoſpe auseinanderſchließt:
er dachte an einen ganz beſtimmten Vorgang aus der Ge¬
ſchichte des Menſchen auf Erden. Sein Blick ſchweifte zurück
über anderthalb Jahrtauſende. Er haftete im öſtlichſten
Winkel des Mittelmeeres, — dort, wo ein kleines, ſchmales
Land ſich zwiſchen Meer und Wüſte ſchiebt. Es iſt das Meer,
über das die Phönikier einſt nach Weſten Kulturgold ver¬
frachtet haben. Die Wüſte, über deren weißer Fläche noch
früher, im Anfang aller Überlieferung, von Oſten her die
erſten Kulturvölker wie Schemen aus dem Unbekannten auf¬
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hügel über einem glitzernden blauen See. Auf dem Hügel

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[31/0047] fliege zeugen läßt. Es iſt zugleich ein Symbol der Menſchen¬ liebe. In jenem „nicht mehr bloß“ des Kindes erſcheint die Liebe wie losgelöſt von ihrem urſprünglichen Stamm, befreit zu einem höheren Daſein. Es giebt niedere Seetiere im Meeresgrund, aus deren Ei ein feſtgewachſener Polyp entſpringt; in einer gewiſſen Reife aber löſt ſich die Krone dieſes Polypen plötzlich frei ab und ſchwimmt, ein entzückend ſchöner Körper, durchſichtig wie eine kornblumblaue Glasglocke und bei Nacht von eigenem Lichte wie ein goldener Stern erhellt, unbehindert in die Weite des Ozeans hinaus. So iſt es auch mit der Liebe. Als ſei hier ein jugendlich unreifes Wurzelſtadium durchgeriſſen zu feſſel¬ loſer, unendlich reicherer Wanderſchaft. Die Liebe wandert, — wandert als ein Geiſteswert in alle Lande, in die ganze „Menſchheit“ hinaus. Statt des einfachen Geſchlechtsverbandes erſtrebt ſie den ſozialen Verband aller Menſchenindividuen zu gemeinſamer Arbeit, gemeinſamer Hilfe zum Glück. Rafael, indem er dieſes Kind mit den großen flammen¬ den Menſchheitsaugen ſchuf, dieſen Augen, die nie ein Kind getragen hat und die nur möglich ſind, wenn ſymboliſch aus dieſem Kindesblick das erwachende Auge der Menſchheit ſich zu dem Beſchauer wie eine ungeheure Knoſpe auseinanderſchließt: er dachte an einen ganz beſtimmten Vorgang aus der Ge¬ ſchichte des Menſchen auf Erden. Sein Blick ſchweifte zurück über anderthalb Jahrtauſende. Er haftete im öſtlichſten Winkel des Mittelmeeres, — dort, wo ein kleines, ſchmales Land ſich zwiſchen Meer und Wüſte ſchiebt. Es iſt das Meer, über das die Phönikier einſt nach Weſten Kulturgold ver¬ frachtet haben. Die Wüſte, über deren weißer Fläche noch früher, im Anfang aller Überlieferung, von Oſten her die erſten Kulturvölker wie Schemen aus dem Unbekannten auf¬ geſtiegen ſind. Und in dem Lande fand der Blick einen grünen Palmen¬ hügel über einem glitzernden blauen See. Auf dem Hügel

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/47>, abgerufen am 24.04.2024.