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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Ganz langsam so erst, Stück für Stück, ist das Liebes-
Individuum, wie es heute in zwei liebenden Menschen vor
dir steht, von der Natur zugesponnen worden.

Ich sagte dir, du solltest dich von deinem Geschlechtsteil
belehren lassen. Gleich der erste Schritt aber, der uns zum
Liebes-Individuum mit seinen drei Liebesarten geführt hat, giebt
dem ganzen Satze noch einen höheren Sinn. Dein eigentliches
Geschlechtsorgan hier ist nur das der Mischliebe. Aber dein
Leib ist noch voll anderer, gleichsam geheimer Geschlechtsorgane.
Alle die, die zur Distanceliebe und Dauerliebe dienen. Ein
Geschlechtsglied in diesem höheren Sinne ist deine Zunge,
die Worte aussendet von einem Teil des Liebes-Individuums
zum anderen. In ihrer Art ist sie ein aktives, ein männliches
Organ der Distanceliebe. Eine Art weiblichen empfangenden
Schoßes umgekehrt ist dazu dein Ohr, das diese Worte in sich
aufnimmt. Ein Geschlechtsteil nicht minder ist dein Auge, und
jede Lichtwelle, die von Mann zu Weib und Weib zu Mann
strömt, ist in ihrer Art eine strömende Welle zeugenden Samens,
den die Netzhaut in tiefem Schoße einsaugt. Ein denkender
Forscher, der den Bau des Weibes ernst durchdacht hatte, hat
einmal den Spruch gethan: an des Weibes ganzem Leibe sei
eigentlich kein Fäserchen, das nicht seine Abhängigkeit darthäte
von der Geschlechtsbestimmung als Weib. Das trifft zu, -- trifft
aber genau so auch zu auf den Mann. Wenn je ein Glaube
wahr war, so ist es der alte naive: daß, wer liebt, mit Leib
und Seele bis in jedes Haar seines Hauptes und jedes Sonnen¬
stäubchen seines Geistes liebt. Kein Titelchen weder von dir
noch von deiner Liebsten kannst du fortdenken, ohne auch in das
Liebes-Individuum, das ihr bildet, einen tiefen Riß zu reißen.
Gerade weil das so ist, läßt sich aber aus der geschichtlichen
Betrachtung deines "Menschwerdens" überhaupt nun im engeren
auch so unendlich viel gleich mitbegreifen von den heutigen
Thatsachen deiner Liebe. Eine ganze Kette der seltsamsten, der
quälendsten Erscheinungen werden da fast augenblicklich klar.

Ganz langſam ſo erſt, Stück für Stück, iſt das Liebes-
Individuum, wie es heute in zwei liebenden Menſchen vor
dir ſteht, von der Natur zugeſponnen worden.

Ich ſagte dir, du ſollteſt dich von deinem Geſchlechtsteil
belehren laſſen. Gleich der erſte Schritt aber, der uns zum
Liebes-Individuum mit ſeinen drei Liebesarten geführt hat, giebt
dem ganzen Satze noch einen höheren Sinn. Dein eigentliches
Geſchlechtsorgan hier iſt nur das der Miſchliebe. Aber dein
Leib iſt noch voll anderer, gleichſam geheimer Geſchlechtsorgane.
Alle die, die zur Diſtanceliebe und Dauerliebe dienen. Ein
Geſchlechtsglied in dieſem höheren Sinne iſt deine Zunge,
die Worte ausſendet von einem Teil des Liebes-Individuums
zum anderen. In ihrer Art iſt ſie ein aktives, ein männliches
Organ der Diſtanceliebe. Eine Art weiblichen empfangenden
Schoßes umgekehrt iſt dazu dein Ohr, das dieſe Worte in ſich
aufnimmt. Ein Geſchlechtsteil nicht minder iſt dein Auge, und
jede Lichtwelle, die von Mann zu Weib und Weib zu Mann
ſtrömt, iſt in ihrer Art eine ſtrömende Welle zeugenden Samens,
den die Netzhaut in tiefem Schoße einſaugt. Ein denkender
Forſcher, der den Bau des Weibes ernſt durchdacht hatte, hat
einmal den Spruch gethan: an des Weibes ganzem Leibe ſei
eigentlich kein Fäſerchen, das nicht ſeine Abhängigkeit darthäte
von der Geſchlechtsbeſtimmung als Weib. Das trifft zu, — trifft
aber genau ſo auch zu auf den Mann. Wenn je ein Glaube
wahr war, ſo iſt es der alte naive: daß, wer liebt, mit Leib
und Seele bis in jedes Haar ſeines Hauptes und jedes Sonnen¬
ſtäubchen ſeines Geiſtes liebt. Kein Titelchen weder von dir
noch von deiner Liebſten kannſt du fortdenken, ohne auch in das
Liebes-Individuum, das ihr bildet, einen tiefen Riß zu reißen.
Gerade weil das ſo iſt, läßt ſich aber aus der geſchichtlichen
Betrachtung deines „Menſchwerdens“ überhaupt nun im engeren
auch ſo unendlich viel gleich mitbegreifen von den heutigen
Thatſachen deiner Liebe. Eine ganze Kette der ſeltſamſten, der
quälendſten Erſcheinungen werden da faſt augenblicklich klar.

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[164/0180] Ganz langſam ſo erſt, Stück für Stück, iſt das Liebes- Individuum, wie es heute in zwei liebenden Menſchen vor dir ſteht, von der Natur zugeſponnen worden. Ich ſagte dir, du ſollteſt dich von deinem Geſchlechtsteil belehren laſſen. Gleich der erſte Schritt aber, der uns zum Liebes-Individuum mit ſeinen drei Liebesarten geführt hat, giebt dem ganzen Satze noch einen höheren Sinn. Dein eigentliches Geſchlechtsorgan hier iſt nur das der Miſchliebe. Aber dein Leib iſt noch voll anderer, gleichſam geheimer Geſchlechtsorgane. Alle die, die zur Diſtanceliebe und Dauerliebe dienen. Ein Geſchlechtsglied in dieſem höheren Sinne iſt deine Zunge, die Worte ausſendet von einem Teil des Liebes-Individuums zum anderen. In ihrer Art iſt ſie ein aktives, ein männliches Organ der Diſtanceliebe. Eine Art weiblichen empfangenden Schoßes umgekehrt iſt dazu dein Ohr, das dieſe Worte in ſich aufnimmt. Ein Geſchlechtsteil nicht minder iſt dein Auge, und jede Lichtwelle, die von Mann zu Weib und Weib zu Mann ſtrömt, iſt in ihrer Art eine ſtrömende Welle zeugenden Samens, den die Netzhaut in tiefem Schoße einſaugt. Ein denkender Forſcher, der den Bau des Weibes ernſt durchdacht hatte, hat einmal den Spruch gethan: an des Weibes ganzem Leibe ſei eigentlich kein Fäſerchen, das nicht ſeine Abhängigkeit darthäte von der Geſchlechtsbeſtimmung als Weib. Das trifft zu, — trifft aber genau ſo auch zu auf den Mann. Wenn je ein Glaube wahr war, ſo iſt es der alte naive: daß, wer liebt, mit Leib und Seele bis in jedes Haar ſeines Hauptes und jedes Sonnen¬ ſtäubchen ſeines Geiſtes liebt. Kein Titelchen weder von dir noch von deiner Liebſten kannſt du fortdenken, ohne auch in das Liebes-Individuum, das ihr bildet, einen tiefen Riß zu reißen. Gerade weil das ſo iſt, läßt ſich aber aus der geſchichtlichen Betrachtung deines „Menſchwerdens“ überhaupt nun im engeren auch ſo unendlich viel gleich mitbegreifen von den heutigen Thatſachen deiner Liebe. Eine ganze Kette der ſeltſamſten, der quälendſten Erſcheinungen werden da faſt augenblicklich klar.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/180>, abgerufen am 24.04.2024.