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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 4. Offenbach, 1833.

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Briefe, der das Postzeichen: Hamburg. 15. Nov.
trug. Der Mensch denkt's, Gott lenkt's. Ich wollte
darauf schwören, daß der Briefsteller acht Tage nach
dem 15. November sich Morgens vergnügt die Hände
rieb und jubelte: heute kommt mein Brief nach Paris,
heute wird er braun, roth, gelb und weiß vor Aerger,
und zerbricht sich den Kopf, wer das Sonett gemacht
haben mag. Goethe oder Platen, oder Uhland, oder
Heine, oder Chamisso -- und kann es nicht errathen.
Aber es kam ganz anders. Den Brief erhielt ich erst
gestern, also vier Monate später, weil die Adresse
falsch war. Die Straße Rue de Provence war zwar
richtig angegeben, aber die Hausnummer war falsch.
Ich wohne Nr. 24, und die Adresse hatte Nr. 21.
Vier Monate suchte mich der Briefträger, bis er mich
endlich fand! Und ich wohne doch der Nr. 21 ge¬
rade gegenüber! Und ich erhielt den Brief zugleich
mit dem ersten Veilchen, zu einer Zeit, wo mich nichts
ärgern kann, weil ich dann meinem Ost entgegen¬
dämmere, weil ich dann des baldigen Wiedersehens
froh bin. So weise hat mein Schutzgeist alles gelenkt,
um die Bosheit des Hamburger Sonnettiers zu vereiteln.

Aber so ist der Deutsche! Dieser unbekannte
Hamburger -- ein Mensch, der so gar keine Schul¬
kenntnisse hat, der so wenig von Geographie, Stati¬
stik, Historie, Topographie, Biographie gelernt hat,
daß er nicht einmal weiß, daß ich in der Rüe de

Briefe, der das Poſtzeichen: Hamburg. 15. Nov.
trug. Der Menſch denkt's, Gott lenkt's. Ich wollte
darauf ſchwören, daß der Briefſteller acht Tage nach
dem 15. November ſich Morgens vergnügt die Hände
rieb und jubelte: heute kommt mein Brief nach Paris,
heute wird er braun, roth, gelb und weiß vor Aerger,
und zerbricht ſich den Kopf, wer das Sonett gemacht
haben mag. Goethe oder Platen, oder Uhland, oder
Heine, oder Chamiſſo — und kann es nicht errathen.
Aber es kam ganz anders. Den Brief erhielt ich erſt
geſtern, alſo vier Monate ſpäter, weil die Adreſſe
falſch war. Die Straße Rue de Provence war zwar
richtig angegeben, aber die Hausnummer war falſch.
Ich wohne Nr. 24, und die Adreſſe hatte Nr. 21.
Vier Monate ſuchte mich der Briefträger, bis er mich
endlich fand! Und ich wohne doch der Nr. 21 ge¬
rade gegenüber! Und ich erhielt den Brief zugleich
mit dem erſten Veilchen, zu einer Zeit, wo mich nichts
ärgern kann, weil ich dann meinem Oſt entgegen¬
dämmere, weil ich dann des baldigen Wiederſehens
froh bin. So weiſe hat mein Schutzgeiſt alles gelenkt,
um die Bosheit des Hamburger Sonnettiers zu vereiteln.

Aber ſo iſt der Deutſche! Dieſer unbekannte
Hamburger — ein Menſch, der ſo gar keine Schul¬
kenntniſſe hat, der ſo wenig von Geographie, Stati¬
ſtik, Hiſtorie, Topographie, Biographie gelernt hat,
daß er nicht einmal weiß, daß ich in der Rüe de

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[247/0261] Briefe, der das Poſtzeichen: Hamburg. 15. Nov. trug. Der Menſch denkt's, Gott lenkt's. Ich wollte darauf ſchwören, daß der Briefſteller acht Tage nach dem 15. November ſich Morgens vergnügt die Hände rieb und jubelte: heute kommt mein Brief nach Paris, heute wird er braun, roth, gelb und weiß vor Aerger, und zerbricht ſich den Kopf, wer das Sonett gemacht haben mag. Goethe oder Platen, oder Uhland, oder Heine, oder Chamiſſo — und kann es nicht errathen. Aber es kam ganz anders. Den Brief erhielt ich erſt geſtern, alſo vier Monate ſpäter, weil die Adreſſe falſch war. Die Straße Rue de Provence war zwar richtig angegeben, aber die Hausnummer war falſch. Ich wohne Nr. 24, und die Adreſſe hatte Nr. 21. Vier Monate ſuchte mich der Briefträger, bis er mich endlich fand! Und ich wohne doch der Nr. 21 ge¬ rade gegenüber! Und ich erhielt den Brief zugleich mit dem erſten Veilchen, zu einer Zeit, wo mich nichts ärgern kann, weil ich dann meinem Oſt entgegen¬ dämmere, weil ich dann des baldigen Wiederſehens froh bin. So weiſe hat mein Schutzgeiſt alles gelenkt, um die Bosheit des Hamburger Sonnettiers zu vereiteln. Aber ſo iſt der Deutſche! Dieſer unbekannte Hamburger — ein Menſch, der ſo gar keine Schul¬ kenntniſſe hat, der ſo wenig von Geographie, Stati¬ ſtik, Hiſtorie, Topographie, Biographie gelernt hat, daß er nicht einmal weiß, daß ich in der Rüe de

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Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 4. Offenbach, 1833, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris04_1833/261>, abgerufen am 16.04.2024.