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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

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Kapitel 1. Die Dichtung als Anlage.
pbo_010.002
§ 1. Lehre von der Dichtung.

pbo_010.003
Poetik ist Lehre von der Dichtung. Eine Lehre der pbo_010.004
Dichtung, wie poesiefremde Menschen in poesielosen Zeiten pbo_010.005
sie sich vorstellen, giebt es noch weniger, als Lehre irgendwelcher pbo_010.006
anderen Kunst oder rein geistigen, selbständig schaffenden pbo_010.007
Thätigkeit.

pbo_010.008
§ 2. Dichterisches Vermögen im allgemeinen. Jntuition. pbo_010.009
Genie.

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Die Dichtung stellt im allgemeinsten Sinn den Ausdruck der pbo_010.011
erfindenden und gestaltenden Kraft im Geiste dar. Vor der pbo_010.012
Dichtung als gesonderter, mit bestimmten Mitteln wirkender pbo_010.013
Kunstübung betrachten wir also das dichterische Vermögen pbo_010.014
und seine Erscheinungsweise im Menschen überhaupt, dann pbo_010.015
im dichtenden Künstler besonders.

pbo_010.016
Es giebt im menschlichen Geiste eine oberste, bestimmende pbo_010.017
Fähigkeit, welche von der unendlich bedingten Vielgestaltigkeit, pbo_010.018
in die die Welt für seine Wahrnehmung auseinanderfällt, auf pbo_010.019
unmittelbare Erfassung in reiner, unbedingter Einheit hindrängt. pbo_010.020
Wir nennen sie Anschauung (Jntuition). Sie pbo_010.021
vermittelt die Beziehungen, in denen die Dinge zu einander pbo_010.022
und zu ihren inneren Ursachen stehen. Jndem sie die dafür pbo_010.023
entscheidenden Merkmale aufdeckt, wirkt sie mithin erklärend pbo_010.024
und erfindend, wissenschaftlich und künstlerisch (theoretisch und pbo_010.025
praktisch) zugleich. Wo sie sich in einem Menschen in hohem pbo_010.026
Grade wirksam zeigt, spricht man eben im Hinblick auf jenes pbo_010.027
leitende Vermögen im Geiste (genius) von Genie und pbo_010.028
genialer Begabung.

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Kapitel 1. Die Dichtung als Anlage.
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§ 1. Lehre von der Dichtung.

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Poetik ist Lehre von der Dichtung. Eine Lehre der pbo_010.004
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Thätigkeit.

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§ 2. Dichterisches Vermögen im allgemeinen. Jntuition. pbo_010.009
Genie.

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Die Dichtung stellt im allgemeinsten Sinn den Ausdruck der pbo_010.011
erfindenden und gestaltenden Kraft im Geiste dar. Vor der pbo_010.012
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im dichtenden Künstler besonders.

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Es giebt im menschlichen Geiste eine oberste, bestimmende pbo_010.017
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[E10/0014] pbo_010.001 Kapitel 1. Die Dichtung als Anlage. pbo_010.002 § 1. Lehre von der Dichtung. pbo_010.003 Poetik ist Lehre von der Dichtung. Eine Lehre der pbo_010.004 Dichtung, wie poesiefremde Menschen in poesielosen Zeiten pbo_010.005 sie sich vorstellen, giebt es noch weniger, als Lehre irgendwelcher pbo_010.006 anderen Kunst oder rein geistigen, selbständig schaffenden pbo_010.007 Thätigkeit. pbo_010.008 § 2. Dichterisches Vermögen im allgemeinen. Jntuition. pbo_010.009 Genie. pbo_010.010 Die Dichtung stellt im allgemeinsten Sinn den Ausdruck der pbo_010.011 erfindenden und gestaltenden Kraft im Geiste dar. Vor der pbo_010.012 Dichtung als gesonderter, mit bestimmten Mitteln wirkender pbo_010.013 Kunstübung betrachten wir also das dichterische Vermögen pbo_010.014 und seine Erscheinungsweise im Menschen überhaupt, dann pbo_010.015 im dichtenden Künstler besonders. pbo_010.016 Es giebt im menschlichen Geiste eine oberste, bestimmende pbo_010.017 Fähigkeit, welche von der unendlich bedingten Vielgestaltigkeit, pbo_010.018 in die die Welt für seine Wahrnehmung auseinanderfällt, auf pbo_010.019 unmittelbare Erfassung in reiner, unbedingter Einheit hindrängt. pbo_010.020 Wir nennen sie Anschauung (Jntuition). Sie pbo_010.021 vermittelt die Beziehungen, in denen die Dinge zu einander pbo_010.022 und zu ihren inneren Ursachen stehen. Jndem sie die dafür pbo_010.023 entscheidenden Merkmale aufdeckt, wirkt sie mithin erklärend pbo_010.024 und erfindend, wissenschaftlich und künstlerisch (theoretisch und pbo_010.025 praktisch) zugleich. Wo sie sich in einem Menschen in hohem pbo_010.026 Grade wirksam zeigt, spricht man eben im Hinblick auf jenes pbo_010.027 leitende Vermögen im Geiste (genius) von Genie und pbo_010.028 genialer Begabung.

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Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. E10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/14>, abgerufen am 29.03.2024.