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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

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§ 3. Dichterisches Vermögen im besonderen.

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Diese Fähigkeit kann sich allen Bereichen und Zwecken pbo_011.003
menschlichen Bestrebens zuwenden. Wo sie sich aber gleichsam pbo_011.004
auf sich selbst, auf den Kreis ihrer Vorstellungen, die pbo_011.005
Phantasie an sich hingespannt zeigt, im freien Spiele pbo_011.006
mit dem Angeschauten ihr Genügen findet, da reden wir von pbo_011.007
Dichtung. Dichter in erster Linie ist somit jeder Künstler. pbo_011.008
Nur der Stoff, auf den er seine Anschauung sammelt, Last pbo_011.009
und Stütze, Gestalt, Bild, Ton, macht ihn je demgemäß zum pbo_011.010
Architekten, Bildhauer, Maler, Musiker. Derjenige Künstler, pbo_011.011
welcher durch das unmittelbarste Rüstzeug der Mitteilung, die pbo_011.012
Sprache, die Fülle der Vorstellungen in der Anschauung pbo_011.013
selbst in Bewegung setzt, also der eigentliche Künstler der pbo_011.014
bloßen Anschauung
heißt Dichter.

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§ 4. Die Phantasie. pbo_011.016
(Poetischer Wahnsinn.)

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Das ganz besondere Element des Dichters ist demgemäß pbo_011.018
das Reich der Vorstellungen, die Phantasie. Sie wird pbo_011.019
bei ihm ausgebildeter, regsamer sein müssen, als in irgendwelchem pbo_011.020
anderen Geiste. Sonst würde sie ihn nicht ausschließlich pbo_011.021
beherrschen. Darin liegt eine Gefahr. Die Alten pbo_011.022
sprachen von "poetischem Wahnsinn" (furor poeticus) und pbo_011.023
betrachteten den Dichter im Zustande seines Schaffens als pbo_011.024
einen Besessenen. Das war ein Gleichnis, um die gänzliche pbo_011.025
Entrücktheit des Poeten in die Welt seiner Vorstellungen zu pbo_011.026
bezeichnen. Eine philiströse Anschauung unserer Zeit (Lombroso) pbo_011.027
macht aus dem Gleichnis eine Thatsache und zögert pbo_011.028
nicht, die geniale Begabung überhaupt mit dem Wahnsinn pbo_011.029
in eins zu setzen. Das ist die verkehrte Welt. Jm Genius pbo_011.030
entscheidet, wie wir gesehen haben, gerade das, was psychologisch

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§ 3. Dichterisches Vermögen im besonderen.

pbo_011.002
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Architekten, Bildhauer, Maler, Musiker. Derjenige Künstler, pbo_011.011
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bloßen Anschauung
heißt Dichter.

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§ 4. Die Phantasie. pbo_011.016
(Poetischer Wahnsinn.)

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Das ganz besondere Element des Dichters ist demgemäß pbo_011.018
das Reich der Vorstellungen, die Phantasie. Sie wird pbo_011.019
bei ihm ausgebildeter, regsamer sein müssen, als in irgendwelchem pbo_011.020
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beherrschen. Darin liegt eine Gefahr. Die Alten pbo_011.022
sprachen von „poetischem Wahnsinn“ (furor poeticus) und pbo_011.023
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Entrücktheit des Poeten in die Welt seiner Vorstellungen zu pbo_011.026
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Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/15>, abgerufen am 23.04.2024.