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Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789.

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es jeder Fürst und -- jeder Betelmann in die seini-
ge ist. Oder, wer hörte nicht schon manches alte,
eisgraue Bäurlein von seinen Schicksalen, Jugend-
streichen u. s. f. ganze Stunden lang mit selbstzufrie-
denem Lächeln so geläufig und beredt daherschwatzen,
wie ein Procurator, und wenn er sonst der größte
Stockfisch war. Freylich kömmt's denn meist ein
Bißel langweilig für andre heraus. Aber was jeder
thut, muß auch jeder leiden. Freylich hätt' ich, wie
gesagt, mein Geschreibe ganz anders gewünscht; und
kaum war ich damit zur Hälfte fertig, sah' ich das
kuderwelsche Ding schon schief an; alles schien mir un-
schicklich, am unrechten Orte zu stehn, ohne daß ich
mir denn doch getraut hätte, zu bestimmen, wie es
eigentlich seyn sollte; sonst hätt' ich's flugs auf die-
sen Fuß, z. B. nach dem Modell eines Heinrich
Stillings
umgegossen. "Aber, Himmel! welch ein
"Contrast! Stilling und: ich"! dacht' ich. "Nein,
"daran ist nicht zu gedenken. Ich dürfte nicht in
"Stillings Schatten stehn". Freylich hätt' ich mich
oft gerne so gut und fromm schildern mögen, wie
dieser edle Mann es war. Aber konnt' ich es, ohne
zu lügen? Und das wollt' ich nicht, und hätte mir
auch wenig geholfen. Nein! Das kann ich vor Gott
bezeugen, daß ich die pur lautere Wahrheit schrieb;
entweder Sachen die ich selbst gesehen und erfahren,
oder von andern glaubwürdigen Menschen als Wahr-
heit erzählen gehört. Freylich Geständnisse, wie
Roußeau's seine, enthält meine Geschichte auch nicht,
und sollte auch keine solchen enthalten. Mag es seyn,

es jeder Fuͤrſt und — jeder Betelmann in die ſeini-
ge iſt. Oder, wer hoͤrte nicht ſchon manches alte,
eisgraue Baͤurlein von ſeinen Schickſalen, Jugend-
ſtreichen u. ſ. f. ganze Stunden lang mit ſelbſtzufrie-
denem Laͤcheln ſo gelaͤufig und beredt daherſchwatzen,
wie ein Procurator, und wenn er ſonſt der groͤßte
Stockfiſch war. Freylich koͤmmt’s denn meiſt ein
Bißel langweilig fuͤr andre heraus. Aber was jeder
thut, muß auch jeder leiden. Freylich haͤtt’ ich, wie
geſagt, mein Geſchreibe ganz anders gewuͤnſcht; und
kaum war ich damit zur Haͤlfte fertig, ſah’ ich das
kuderwelſche Ding ſchon ſchief an; alles ſchien mir un-
ſchicklich, am unrechten Orte zu ſtehn, ohne daß ich
mir denn doch getraut haͤtte, zu beſtimmen, wie es
eigentlich ſeyn ſollte; ſonſt haͤtt’ ich’s flugs auf die-
ſen Fuß, z. B. nach dem Modell eines Heinrich
Stillings
umgegoſſen. „Aber, Himmel! welch ein
„Contraſt! Stilling und: ich„! dacht’ ich. „Nein,
„daran iſt nicht zu gedenken. Ich duͤrfte nicht in
Stillings Schatten ſtehn„. Freylich haͤtt’ ich mich
oft gerne ſo gut und fromm ſchildern moͤgen, wie
dieſer edle Mann es war. Aber konnt’ ich es, ohne
zu luͤgen? Und das wollt’ ich nicht, und haͤtte mir
auch wenig geholfen. Nein! Das kann ich vor Gott
bezeugen, daß ich die pur lautere Wahrheit ſchrieb;
entweder Sachen die ich ſelbſt geſehen und erfahren,
oder von andern glaubwuͤrdigen Menſchen als Wahr-
heit erzaͤhlen gehoͤrt. Freylich Geſtaͤndniſſe, wie
Roußeau’s ſeine, enthaͤlt meine Geſchichte auch nicht,
und ſollte auch keine ſolchen enthalten. Mag es ſeyn,

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[234/0250] es jeder Fuͤrſt und — jeder Betelmann in die ſeini- ge iſt. Oder, wer hoͤrte nicht ſchon manches alte, eisgraue Baͤurlein von ſeinen Schickſalen, Jugend- ſtreichen u. ſ. f. ganze Stunden lang mit ſelbſtzufrie- denem Laͤcheln ſo gelaͤufig und beredt daherſchwatzen, wie ein Procurator, und wenn er ſonſt der groͤßte Stockfiſch war. Freylich koͤmmt’s denn meiſt ein Bißel langweilig fuͤr andre heraus. Aber was jeder thut, muß auch jeder leiden. Freylich haͤtt’ ich, wie geſagt, mein Geſchreibe ganz anders gewuͤnſcht; und kaum war ich damit zur Haͤlfte fertig, ſah’ ich das kuderwelſche Ding ſchon ſchief an; alles ſchien mir un- ſchicklich, am unrechten Orte zu ſtehn, ohne daß ich mir denn doch getraut haͤtte, zu beſtimmen, wie es eigentlich ſeyn ſollte; ſonſt haͤtt’ ich’s flugs auf die- ſen Fuß, z. B. nach dem Modell eines Heinrich Stillings umgegoſſen. „Aber, Himmel! welch ein „Contraſt! Stilling und: ich„! dacht’ ich. „Nein, „daran iſt nicht zu gedenken. Ich duͤrfte nicht in „Stillings Schatten ſtehn„. Freylich haͤtt’ ich mich oft gerne ſo gut und fromm ſchildern moͤgen, wie dieſer edle Mann es war. Aber konnt’ ich es, ohne zu luͤgen? Und das wollt’ ich nicht, und haͤtte mir auch wenig geholfen. Nein! Das kann ich vor Gott bezeugen, daß ich die pur lautere Wahrheit ſchrieb; entweder Sachen die ich ſelbſt geſehen und erfahren, oder von andern glaubwuͤrdigen Menſchen als Wahr- heit erzaͤhlen gehoͤrt. Freylich Geſtaͤndniſſe, wie Roußeau’s ſeine, enthaͤlt meine Geſchichte auch nicht, und ſollte auch keine ſolchen enthalten. Mag es ſeyn,

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Zitationshilfe: Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braeker_lebensgeschichte_1789/250>, abgerufen am 19.04.2024.