Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903.

Bild:
<< vorherige Seite

waren nun auch ihrerseits gezwungen, dem Erwerb nachzugehen -
ein Turnus der niederdrückenden Wirkung der Frauenarbeit auf
die Männerlöhne und der vorwärtstreibenden Wirkung der un-
zureichenden Männerlöhne auf die Entwickelung der Frauenarbeit,
der sich unaufhörlich wiederholt. Etwas wie ein Naturgesetz, das die
Frauen bisher an das Haus gefesselt und auch ihre Erwerbsarbeit
zwischen die häuslichen vier Pfähle eingespannt hatte, schien dadurch
erschüttert, und mit der ganzen Wuth, die den Menschen jedesmal
dann erfaßt, wenn die Grundmauern alter Gewohnheiten und Be-
quemlichkeiten irgendwo zu bersten beginnen, kämpften die männ-
lichen Arbeiter gegen die weiblichen Wettbewerber um Arbeit. Aber
weder die rohe Gewalt, noch die Macht der gewerkschaftlichen
Organisation vermochte sie zu vertreiben. Denn die soziale Ent-
wickelung läßt sich nicht hemmen, wer gegen sie anrennt, wird von
ihr niedergetreten. Und es war nicht Leichtsinn, nicht Abneigung
gegen die Erfüllung häuslicher Pflichten, die die Frauen in Schaaren
den Verführungskünsten des großen Tyrannen Maschine erliegen
ließ, - die Noth, die bittere Noth, die sie einst zur Zeit der
französischen Revolution eingreifen ließ in die Räder der Welt-
geschichte, trieb sie ihm in die Arme.

Schon im Jahre 1839 waren von den Textilarbeitern in Eng-
land weit über die Hälfte Frauen. Zwanzig Jahre später hatte
die Gesammtzahl der männlichen Arbeiter sich verdoppelt, die der
weiblichen aber sich verdreifacht. Und nach weiteren dreißig Jahren
zählten die Jndustrie-Arbeiter einen Zuwachs von 53 auf 100,
die Arbeiterinnen dagegen von 221 auf 100. Jn allen Ländern,
wo die Maschine Einzug hielt, folgen ihr die Frauen auf dem Fuße
und in den hundert Jahren ihrer Herrschaft ist ihr Einfluß nach
dieser Richtung nur immer stärker geworden. Wir wissen auf
Grund der Volks- und Berufszählungen aller Kulturstaaten, daß
die Frauenarbeit nach wie vor rascher zunimmt, als die Männer-
arbeit, rascher sogar als die weibliche Bevölkerung selbst.
6 1/2 Millionen erwerbsthätige Frauen zählt allein Deutschland, und
von diesen 6 1/2 Millionen sind über 5 Millionen Proletarierinnen.
Von je 100 Arbeitern beiderlei Geschlechts sind heute schon über
36 Frauen, d. h. mehr als ein Drittel.

Aber mehr noch als aus dieser allgemeinen Betrachtung zeigt
sich uns die revolutionirende Gewalt der Maschine auf dem be-
sonderen Gebiet der Arbeit verheiratheter Frauen. Sie, so meint
man, müßten befreit sein vom Zwang des Erwerbs, sie müßten
nach wie vor Haus und Kinder hüten. Aber die kapitalistische Ent-
wickelung, die sich eng an die Fersen der maschinellen geheftet hat,
weil nur der Kapitalist, und zwar in immer wachsendem Maße, im
Stande sein kann, Maschinen anzuschaffen und in Bewegung zu er-
halten, fragt nicht nach sittlichen Rücksichten. Sie nimmt die Arbeits-
kraft, wo sie sich als die vorteilhafteste erweist. Jn Amerika ist

waren nun auch ihrerseits gezwungen, dem Erwerb nachzugehen –
ein Turnus der niederdrückenden Wirkung der Frauenarbeit auf
die Männerlöhne und der vorwärtstreibenden Wirkung der un-
zureichenden Männerlöhne auf die Entwickelung der Frauenarbeit,
der sich unaufhörlich wiederholt. Etwas wie ein Naturgesetz, das die
Frauen bisher an das Haus gefesselt und auch ihre Erwerbsarbeit
zwischen die häuslichen vier Pfähle eingespannt hatte, schien dadurch
erschüttert, und mit der ganzen Wuth, die den Menschen jedesmal
dann erfaßt, wenn die Grundmauern alter Gewohnheiten und Be-
quemlichkeiten irgendwo zu bersten beginnen, kämpften die männ-
lichen Arbeiter gegen die weiblichen Wettbewerber um Arbeit. Aber
weder die rohe Gewalt, noch die Macht der gewerkschaftlichen
Organisation vermochte sie zu vertreiben. Denn die soziale Ent-
wickelung läßt sich nicht hemmen, wer gegen sie anrennt, wird von
ihr niedergetreten. Und es war nicht Leichtsinn, nicht Abneigung
gegen die Erfüllung häuslicher Pflichten, die die Frauen in Schaaren
den Verführungskünsten des großen Tyrannen Maschine erliegen
ließ, – die Noth, die bittere Noth, die sie einst zur Zeit der
französischen Revolution eingreifen ließ in die Räder der Welt-
geschichte, trieb sie ihm in die Arme.

Schon im Jahre 1839 waren von den Textilarbeitern in Eng-
land weit über die Hälfte Frauen. Zwanzig Jahre später hatte
die Gesammtzahl der männlichen Arbeiter sich verdoppelt, die der
weiblichen aber sich verdreifacht. Und nach weiteren dreißig Jahren
zählten die Jndustrie-Arbeiter einen Zuwachs von 53 auf 100,
die Arbeiterinnen dagegen von 221 auf 100. Jn allen Ländern,
wo die Maschine Einzug hielt, folgen ihr die Frauen auf dem Fuße
und in den hundert Jahren ihrer Herrschaft ist ihr Einfluß nach
dieser Richtung nur immer stärker geworden. Wir wissen auf
Grund der Volks- und Berufszählungen aller Kulturstaaten, daß
die Frauenarbeit nach wie vor rascher zunimmt, als die Männer-
arbeit, rascher sogar als die weibliche Bevölkerung selbst.
6 ½ Millionen erwerbsthätige Frauen zählt allein Deutschland, und
von diesen 6 ½ Millionen sind über 5 Millionen Proletarierinnen.
Von je 100 Arbeitern beiderlei Geschlechts sind heute schon über
36 Frauen, d. h. mehr als ein Drittel.

Aber mehr noch als aus dieser allgemeinen Betrachtung zeigt
sich uns die revolutionirende Gewalt der Maschine auf dem be-
sonderen Gebiet der Arbeit verheiratheter Frauen. Sie, so meint
man, müßten befreit sein vom Zwang des Erwerbs, sie müßten
nach wie vor Haus und Kinder hüten. Aber die kapitalistische Ent-
wickelung, die sich eng an die Fersen der maschinellen geheftet hat,
weil nur der Kapitalist, und zwar in immer wachsendem Maße, im
Stande sein kann, Maschinen anzuschaffen und in Bewegung zu er-
halten, fragt nicht nach sittlichen Rücksichten. Sie nimmt die Arbeits-
kraft, wo sie sich als die vorteilhafteste erweist. Jn Amerika ist

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0004" n="5"/>
waren nun auch ihrerseits gezwungen, dem Erwerb                         nachzugehen &#x2013;<lb/>
ein Turnus der niederdrückenden Wirkung der                         Frauenarbeit auf<lb/>
die Männerlöhne und der vorwärtstreibenden Wirkung der                         un-<lb/>
zureichenden Männerlöhne auf die Entwickelung der                         Frauenarbeit,<lb/>
der sich unaufhörlich wiederholt. Etwas wie ein                         Naturgesetz, das die<lb/>
Frauen bisher an das Haus gefesselt und auch ihre                         Erwerbsarbeit<lb/>
zwischen die häuslichen vier Pfähle eingespannt hatte,                         schien dadurch<lb/>
erschüttert, und mit der ganzen Wuth, die den Menschen                         jedesmal<lb/>
dann erfaßt, wenn die Grundmauern alter Gewohnheiten und                         Be-<lb/>
quemlichkeiten irgendwo zu bersten beginnen, kämpften die                         männ-<lb/>
lichen Arbeiter gegen die weiblichen Wettbewerber um Arbeit.                         Aber<lb/>
weder die rohe Gewalt, noch die Macht der gewerkschaftlichen<lb/>
Organisation vermochte sie zu vertreiben. Denn die soziale Ent-<lb/>
wickelung läßt sich nicht hemmen, wer gegen sie anrennt, wird von<lb/>
ihr                         niedergetreten. Und es war nicht Leichtsinn, nicht Abneigung<lb/>
gegen die                         Erfüllung häuslicher Pflichten, die die Frauen in Schaaren<lb/>
den                         Verführungskünsten des großen Tyrannen Maschine erliegen<lb/>
ließ, &#x2013;                         die Noth, die bittere Noth, die sie einst zur Zeit der<lb/>
französischen                         Revolution eingreifen ließ in die Räder der Welt-<lb/>
geschichte, trieb sie                         ihm in die Arme.</p><lb/>
          <p>Schon im Jahre 1839 waren von den Textilarbeitern in Eng-<lb/>
land weit über                         die Hälfte Frauen. Zwanzig Jahre später hatte<lb/>
die Gesammtzahl der                         männlichen Arbeiter sich verdoppelt, die der<lb/>
weiblichen aber sich                         verdreifacht. Und nach weiteren dreißig Jahren<lb/>
zählten die                         Jndustrie-Arbeiter einen Zuwachs von 53 auf 100,<lb/>
die Arbeiterinnen                         dagegen von 221 auf 100. Jn allen Ländern,<lb/>
wo die Maschine Einzug                         hielt, folgen ihr die Frauen auf dem Fuße<lb/>
und in den hundert Jahren                         ihrer Herrschaft ist ihr Einfluß nach<lb/>
dieser Richtung nur immer stärker                         geworden. Wir wissen auf<lb/>
Grund der Volks- und Berufszählungen aller                         Kulturstaaten, daß<lb/>
die Frauenarbeit nach wie vor rascher zunimmt, als                         die Männer-<lb/>
arbeit, rascher sogar als die weibliche Bevölkerung                         selbst.<lb/>
6 ½ Millionen erwerbsthätige Frauen zählt allein                         Deutschland, und<lb/>
von diesen 6 ½ Millionen sind über 5 Millionen                         Proletarierinnen.<lb/>
Von je 100 Arbeitern beiderlei Geschlechts sind heute                         schon über<lb/>
36 Frauen, d. h. mehr als ein Drittel.</p><lb/>
          <p>Aber mehr noch als aus dieser allgemeinen Betrachtung zeigt<lb/>
sich uns die                         revolutionirende Gewalt der Maschine auf dem be-<lb/>
sonderen Gebiet der                         Arbeit verheiratheter Frauen. Sie, so meint<lb/>
man, müßten befreit sein                         vom Zwang des Erwerbs, sie müßten<lb/>
nach wie vor Haus und Kinder hüten.                         Aber die kapitalistische Ent-<lb/>
wickelung, die sich eng an die Fersen der                         maschinellen geheftet hat,<lb/>
weil nur der Kapitalist, und zwar in immer                         wachsendem Maße, im<lb/>
Stande sein kann, Maschinen anzuschaffen und in                         Bewegung zu er-<lb/>
halten, fragt nicht nach sittlichen Rücksichten. Sie                         nimmt die Arbeits-<lb/>
kraft, wo sie sich als die vorteilhafteste erweist.                         Jn Amerika ist<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[5/0004] waren nun auch ihrerseits gezwungen, dem Erwerb nachzugehen – ein Turnus der niederdrückenden Wirkung der Frauenarbeit auf die Männerlöhne und der vorwärtstreibenden Wirkung der un- zureichenden Männerlöhne auf die Entwickelung der Frauenarbeit, der sich unaufhörlich wiederholt. Etwas wie ein Naturgesetz, das die Frauen bisher an das Haus gefesselt und auch ihre Erwerbsarbeit zwischen die häuslichen vier Pfähle eingespannt hatte, schien dadurch erschüttert, und mit der ganzen Wuth, die den Menschen jedesmal dann erfaßt, wenn die Grundmauern alter Gewohnheiten und Be- quemlichkeiten irgendwo zu bersten beginnen, kämpften die männ- lichen Arbeiter gegen die weiblichen Wettbewerber um Arbeit. Aber weder die rohe Gewalt, noch die Macht der gewerkschaftlichen Organisation vermochte sie zu vertreiben. Denn die soziale Ent- wickelung läßt sich nicht hemmen, wer gegen sie anrennt, wird von ihr niedergetreten. Und es war nicht Leichtsinn, nicht Abneigung gegen die Erfüllung häuslicher Pflichten, die die Frauen in Schaaren den Verführungskünsten des großen Tyrannen Maschine erliegen ließ, – die Noth, die bittere Noth, die sie einst zur Zeit der französischen Revolution eingreifen ließ in die Räder der Welt- geschichte, trieb sie ihm in die Arme. Schon im Jahre 1839 waren von den Textilarbeitern in Eng- land weit über die Hälfte Frauen. Zwanzig Jahre später hatte die Gesammtzahl der männlichen Arbeiter sich verdoppelt, die der weiblichen aber sich verdreifacht. Und nach weiteren dreißig Jahren zählten die Jndustrie-Arbeiter einen Zuwachs von 53 auf 100, die Arbeiterinnen dagegen von 221 auf 100. Jn allen Ländern, wo die Maschine Einzug hielt, folgen ihr die Frauen auf dem Fuße und in den hundert Jahren ihrer Herrschaft ist ihr Einfluß nach dieser Richtung nur immer stärker geworden. Wir wissen auf Grund der Volks- und Berufszählungen aller Kulturstaaten, daß die Frauenarbeit nach wie vor rascher zunimmt, als die Männer- arbeit, rascher sogar als die weibliche Bevölkerung selbst. 6 ½ Millionen erwerbsthätige Frauen zählt allein Deutschland, und von diesen 6 ½ Millionen sind über 5 Millionen Proletarierinnen. Von je 100 Arbeitern beiderlei Geschlechts sind heute schon über 36 Frauen, d. h. mehr als ein Drittel. Aber mehr noch als aus dieser allgemeinen Betrachtung zeigt sich uns die revolutionirende Gewalt der Maschine auf dem be- sonderen Gebiet der Arbeit verheiratheter Frauen. Sie, so meint man, müßten befreit sein vom Zwang des Erwerbs, sie müßten nach wie vor Haus und Kinder hüten. Aber die kapitalistische Ent- wickelung, die sich eng an die Fersen der maschinellen geheftet hat, weil nur der Kapitalist, und zwar in immer wachsendem Maße, im Stande sein kann, Maschinen anzuschaffen und in Bewegung zu er- halten, fragt nicht nach sittlichen Rücksichten. Sie nimmt die Arbeits- kraft, wo sie sich als die vorteilhafteste erweist. Jn Amerika ist

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2022-08-30T16:52:29Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt, Dennis Dietrich: Bearbeitung der digitalen Edition. (2022-08-30T16:52:29Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: gekennzeichnet; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; I/J in Fraktur: wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/braun_frauen_1903
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/braun_frauen_1903/4
Zitationshilfe: Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braun_frauen_1903/4>, abgerufen am 29.03.2024.