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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869.

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Die Tausendfüßler. Bandasseln.
reichlichen Schleimabsonderungen verbunden war, und später gesellte sich häufiges Kopfweh zu
diesen Krankheitserscheinungen. Die anfänglich noch zu ertragenden Schmerzen wurden bald heftiger
und kehrten häufig wieder. Diese Zufälle waren weder in ihrem Erscheinen noch in der Dauer
regelmäßig; für gewöhnlich traten sie als mehr oder weniger heftige Stiche auf, welche die Nasen-
wurzel und mittlere Stirngegend einnahmen, aber auch als schneidender Schmerz, welcher sich von
der rechten Stirngegend nach der Schläfe und dem Ohre derselben Seite und schließlich über den
ganzen Kopf ausbreitete. Die reichliche Schleimabsonderung nöthigte die Kranke zu fortwährendem
Schneuzen, wobei Blut und unangenehmer Geruch zum Vorschein kamen. Thränen der Augen,
Uebelkeit und Erbrechen waren nicht selten im Gefolge jener Anfälle. Einigemal waren die
Schmerzen so heftig, daß die Kranke meinte, es würde ihr mit einem Hammer auf den Kopf
geschlagen, oder das Gehirn durchbohrt; dann waren die Gesichtszüge entstellt, die Kinnladen
zusammengezogen, die Adern der Schläfengegend in der heftigsten Bewegung und die Sinne
des Gehörs und Gesichts so reizbar, daß das geringste Geräusch und das Licht unerträglich
wurden. Ein andermal verfiel die Unglückliche in ein wahres Delirium, preßte den Kopf in die
[Abbildung] Die langfühlerige Erdassel (Geophllus longicornis), einen Regenwurm bewältigend.
Hände, stürzte aus dem Hause und wußte nicht, wo sie Hilfe suchen sollte. Diese Anfälle wieder-
holten sich fünf oder sechs Mal, bei Tage oder in der Nacht, einer derselben hielt sogar mit
geringen Unterbrechungen volle vierzehn Tage an. Methodisch ärztliche Behandlung war nicht
angewendet worden. Endlich, nach einem Jahre der Leiden hörten diese außergewöhnlichen Krank-
heitserscheinungen plötzlich auf durch Ausniesen eines Jnsekts, welches, auf den Boden gefallen,
sich uhrfederartig mit großer Beweglichkeit aufrollte, in wenig Wasser gethan mehrere Tage fort-
lebte und erst starb, als man es in Weingeist setzte. Es war 2 Zoll 3 Linien lang, gelb von
Farbe und aus 64 fußtragenden Leibesringen zusammengesetzt. Sachverständige gaben es für
G. electricus aus und eine beigefügte Abbildung läßt unentschieden, ob es diese nicht ganz klare
Art, oder der sehr ähnliche G. carpophilus, die fruchtliebende Erdassel gewesen sei. Beide
aber unterscheiden sich von der vorher beschriebenen langfühlerigen Erdassel durch rosenkranz-
förmige Fühler, welche den Kopf nur um das Zwei- oder Dreifache an Länge übertreffen und
durch zahlreichere Körperringe. Koch gibt von seinem G. electricus 74 Glieder an, Leach von
einem G. carpophilus, welcher gern süße Früchte anfrißt, daß er elektrisches Licht verbreite.



Die Tauſendfüßler. Bandaſſeln.
reichlichen Schleimabſonderungen verbunden war, und ſpäter geſellte ſich häufiges Kopfweh zu
dieſen Krankheitserſcheinungen. Die anfänglich noch zu ertragenden Schmerzen wurden bald heftiger
und kehrten häufig wieder. Dieſe Zufälle waren weder in ihrem Erſcheinen noch in der Dauer
regelmäßig; für gewöhnlich traten ſie als mehr oder weniger heftige Stiche auf, welche die Naſen-
wurzel und mittlere Stirngegend einnahmen, aber auch als ſchneidender Schmerz, welcher ſich von
der rechten Stirngegend nach der Schläfe und dem Ohre derſelben Seite und ſchließlich über den
ganzen Kopf ausbreitete. Die reichliche Schleimabſonderung nöthigte die Kranke zu fortwährendem
Schneuzen, wobei Blut und unangenehmer Geruch zum Vorſchein kamen. Thränen der Augen,
Uebelkeit und Erbrechen waren nicht ſelten im Gefolge jener Anfälle. Einigemal waren die
Schmerzen ſo heftig, daß die Kranke meinte, es würde ihr mit einem Hammer auf den Kopf
geſchlagen, oder das Gehirn durchbohrt; dann waren die Geſichtszüge entſtellt, die Kinnladen
zuſammengezogen, die Adern der Schläfengegend in der heftigſten Bewegung und die Sinne
des Gehörs und Geſichts ſo reizbar, daß das geringſte Geräuſch und das Licht unerträglich
wurden. Ein andermal verfiel die Unglückliche in ein wahres Delirium, preßte den Kopf in die
[Abbildung] Die langfühlerige Erdaſſel (Geophllus longicornis), einen Regenwurm bewältigend.
Hände, ſtürzte aus dem Hauſe und wußte nicht, wo ſie Hilfe ſuchen ſollte. Dieſe Anfälle wieder-
holten ſich fünf oder ſechs Mal, bei Tage oder in der Nacht, einer derſelben hielt ſogar mit
geringen Unterbrechungen volle vierzehn Tage an. Methodiſch ärztliche Behandlung war nicht
angewendet worden. Endlich, nach einem Jahre der Leiden hörten dieſe außergewöhnlichen Krank-
heitserſcheinungen plötzlich auf durch Ausnieſen eines Jnſekts, welches, auf den Boden gefallen,
ſich uhrfederartig mit großer Beweglichkeit aufrollte, in wenig Waſſer gethan mehrere Tage fort-
lebte und erſt ſtarb, als man es in Weingeiſt ſetzte. Es war 2 Zoll 3 Linien lang, gelb von
Farbe und aus 64 fußtragenden Leibesringen zuſammengeſetzt. Sachverſtändige gaben es für
G. electricus aus und eine beigefügte Abbildung läßt unentſchieden, ob es dieſe nicht ganz klare
Art, oder der ſehr ähnliche G. carpophilus, die fruchtliebende Erdaſſel geweſen ſei. Beide
aber unterſcheiden ſich von der vorher beſchriebenen langfühlerigen Erdaſſel durch roſenkranz-
förmige Fühler, welche den Kopf nur um das Zwei- oder Dreifache an Länge übertreffen und
durch zahlreichere Körperringe. Koch gibt von ſeinem G. electricus 74 Glieder an, Leach von
einem G. carpophilus, welcher gern ſüße Früchte anfrißt, daß er elektriſches Licht verbreite.



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[548/0584] Die Tauſendfüßler. Bandaſſeln. reichlichen Schleimabſonderungen verbunden war, und ſpäter geſellte ſich häufiges Kopfweh zu dieſen Krankheitserſcheinungen. Die anfänglich noch zu ertragenden Schmerzen wurden bald heftiger und kehrten häufig wieder. Dieſe Zufälle waren weder in ihrem Erſcheinen noch in der Dauer regelmäßig; für gewöhnlich traten ſie als mehr oder weniger heftige Stiche auf, welche die Naſen- wurzel und mittlere Stirngegend einnahmen, aber auch als ſchneidender Schmerz, welcher ſich von der rechten Stirngegend nach der Schläfe und dem Ohre derſelben Seite und ſchließlich über den ganzen Kopf ausbreitete. Die reichliche Schleimabſonderung nöthigte die Kranke zu fortwährendem Schneuzen, wobei Blut und unangenehmer Geruch zum Vorſchein kamen. Thränen der Augen, Uebelkeit und Erbrechen waren nicht ſelten im Gefolge jener Anfälle. Einigemal waren die Schmerzen ſo heftig, daß die Kranke meinte, es würde ihr mit einem Hammer auf den Kopf geſchlagen, oder das Gehirn durchbohrt; dann waren die Geſichtszüge entſtellt, die Kinnladen zuſammengezogen, die Adern der Schläfengegend in der heftigſten Bewegung und die Sinne des Gehörs und Geſichts ſo reizbar, daß das geringſte Geräuſch und das Licht unerträglich wurden. Ein andermal verfiel die Unglückliche in ein wahres Delirium, preßte den Kopf in die [Abbildung Die langfühlerige Erdaſſel (Geophllus longicornis), einen Regenwurm bewältigend.] Hände, ſtürzte aus dem Hauſe und wußte nicht, wo ſie Hilfe ſuchen ſollte. Dieſe Anfälle wieder- holten ſich fünf oder ſechs Mal, bei Tage oder in der Nacht, einer derſelben hielt ſogar mit geringen Unterbrechungen volle vierzehn Tage an. Methodiſch ärztliche Behandlung war nicht angewendet worden. Endlich, nach einem Jahre der Leiden hörten dieſe außergewöhnlichen Krank- heitserſcheinungen plötzlich auf durch Ausnieſen eines Jnſekts, welches, auf den Boden gefallen, ſich uhrfederartig mit großer Beweglichkeit aufrollte, in wenig Waſſer gethan mehrere Tage fort- lebte und erſt ſtarb, als man es in Weingeiſt ſetzte. Es war 2 Zoll 3 Linien lang, gelb von Farbe und aus 64 fußtragenden Leibesringen zuſammengeſetzt. Sachverſtändige gaben es für G. electricus aus und eine beigefügte Abbildung läßt unentſchieden, ob es dieſe nicht ganz klare Art, oder der ſehr ähnliche G. carpophilus, die fruchtliebende Erdaſſel geweſen ſei. Beide aber unterſcheiden ſich von der vorher beſchriebenen langfühlerigen Erdaſſel durch roſenkranz- förmige Fühler, welche den Kopf nur um das Zwei- oder Dreifache an Länge übertreffen und durch zahlreichere Körperringe. Koch gibt von ſeinem G. electricus 74 Glieder an, Leach von einem G. carpophilus, welcher gern ſüße Früchte anfrißt, daß er elektriſches Licht verbreite.

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869, S. 548. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben06_1869/584>, abgerufen am 25.04.2024.