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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869.

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Stachelige und eßbare Herzmuschel.
Boden des Bootes aus über Bord hinweg aus dem Staub gemacht. Wir sehen also, daß
einmal die hakige Spitze zur Verstärkung der Springbewegung dient. Jn noch direkterer Beziehung
steht sie aber zu der Gewohnheit des Thieres, zu graben. Wie alle übrigen Arten dieser schönen
Sippe wohnt auch diese im Sande, wo hinein sie mit beträchtlicher Gewalt und Schnelligkeit
dringen kann. Zu diesem Behuf wird der Fuß ausgestreckt und sein scharfes Ende senkrecht in
den nassen Sand getrieben. Die angewendete Muskelkraft reicht hin, mit der ganzen Länge in
den feuchten Boden einzudringen, indem die Spitze plötzlich seitwärts gebogen wurde und so einen
starken Haltepunkt gibt. Nun wird das ganze Organ stark der Länge nach zusammengezogen
und Thier und Schale kräftig gegen die Mündung der Höhlung angetrieben; die nach unten
gerichteten Ränder der Schale werfen den Sand etwas zur Seite. Die vorgestreckte Spitze wird
dann einen oder zwei Zoll weiter getrieben, wiederum gekrümmt und ein zweiter Ruck gemacht.
Die Muschel sinkt etwas tiefer in den nachgiebigen Sand und dieselbe Reihenfolge von Bewegungen
wiederholt sich, bis das Thier sich hinreichend tief vergraben hat. Beim Lesen dieser Beschreibung
könnte man zu glauben veranlaßt werden, es gehe bei jenem Geschäft sehr ungeschickt, unwirksam
und langsam zu. Weit gefehlt. Die Verlängerungen und Zusammenziehungen des Fußes geschehen
mit großer Geschwindigkeit. Und wenn die Muschel in voller Kraft und sehr erschreckt ist, so
verschwindet das unbehülfliche Wesen fast mit Gedanken-Geschwindigkeit in ihre fandige Festung
hinein, so geschwind in der That, daß man sehr schnell sein muß, es zu überraschen und seinem
Eingraben zuvorzukommen, wenn man sich nur auf seine beiden Hände verlassen muß."

Die eßbare Herzmuschel gehört mit anderen ihrer Gattung zu den zählebigen Weichthieren,
welche sehr große Veränderungen der Salzprocente des Meeres aushalten und daher ihr Vorkommen
weit über die Gränzen ausdehnen, welche den für den Salzgehalt ihrer Umgebung empfindlicheren
Thieren gesetzt sind. Dieß gilt namentlich für ihre Verbreitung in der Ostsee und im finnischen
und bottnischen Meerbusen. Bei Gelegenheit einer klassischen Untersuchung über die Lebens-
bedingungen der Auster kommt L. E. von Bär darauf zu sprechen. Er sagt: "Cardium edule,
das in der Nordsee die Größe eines kleinen Apfels erreicht, fand ich an der Küste von Schweden,
südlich von Stockholm, außer dem Bereich des süßen Wassers aus dem Mälar und der Strömung
aus dem bottnischen Busen, noch bis zur Größe einer Wallnuß, aber nur in bedeutender Tiefe;
in der Nähe des Ufers waren die ausgeworfenen alle kleiner. Bei Königsberg pflegen sie nur
die Größe von guten Haselnüssen zu erreichen, bei Neval aber kann man sie nur mit kleinen
Haselnüssen oder mit grauen Erbsen vergleichen, die größer als die gewöhnlichen gelben Erbsen
zu sein pflegen". Auch die eßbare Mießmuschel findet sich noch dort, aber so verkümmert und
klein, daß sie nicht mehr zum Genuß einladet. Zu diesen und anderen, dem eigentlichen wohl-
gesalzenen Meere entstammenden Muscheln gesellen sich dann, sich in umgekehrter Richtung
akkommodirend, Süßwasserthiere, namentlich Limnacen und Paludinen. Was aber die Herz-
muscheln betrifft, so giebt das kaspische Meer weitere Belege für ihre Fähigkeit, sich zu akkommodiren
und umzuformen. Schon jetzt haben sich die Specialisten veranlaßt gesehen, diese Brakwasser-
Kardien zum Theil zu neuen Gattungen zu machen, so konstante Abweichungen in ihrer Schalen-
form haben sich seit den Jahrtausenden gebildet, seit der Zusammenhang des kaspischen Meeres
mit dem Weltmeere durch die Hebung des Landes unterbrochen wurde und die Aussüßung durch
die großen einmündenden Ströme begann. Die Abzweigung von der ächten Herzmuschelform ist
jedoch noch nicht so ausgesprochen, daß nicht der Zusammenhang klar vor Augen läge. Nach
abermaligem Verlauf von vielen tausend Jahren oder Zehntausenden, wir brauchen nicht zu geizen,
werden aus den ehemaligen ächten Seemuscheln eben so ächte, anders gestaltete, anders sich
nährende Süßwassermuscheln hervorgegangen sein, neue Arten und neue Gattungen, auf welche
die Ausflucht der Gegner der Umwandlungslehre, die man so oft hören muß, es seien ja bloße,
des schnellen Rückschlags fähige Abarten, nicht mehr angewendet werden kann.



Stachelige und eßbare Herzmuſchel.
Boden des Bootes aus über Bord hinweg aus dem Staub gemacht. Wir ſehen alſo, daß
einmal die hakige Spitze zur Verſtärkung der Springbewegung dient. Jn noch direkterer Beziehung
ſteht ſie aber zu der Gewohnheit des Thieres, zu graben. Wie alle übrigen Arten dieſer ſchönen
Sippe wohnt auch dieſe im Sande, wo hinein ſie mit beträchtlicher Gewalt und Schnelligkeit
dringen kann. Zu dieſem Behuf wird der Fuß ausgeſtreckt und ſein ſcharfes Ende ſenkrecht in
den naſſen Sand getrieben. Die angewendete Muskelkraft reicht hin, mit der ganzen Länge in
den feuchten Boden einzudringen, indem die Spitze plötzlich ſeitwärts gebogen wurde und ſo einen
ſtarken Haltepunkt gibt. Nun wird das ganze Organ ſtark der Länge nach zuſammengezogen
und Thier und Schale kräftig gegen die Mündung der Höhlung angetrieben; die nach unten
gerichteten Ränder der Schale werfen den Sand etwas zur Seite. Die vorgeſtreckte Spitze wird
dann einen oder zwei Zoll weiter getrieben, wiederum gekrümmt und ein zweiter Ruck gemacht.
Die Muſchel ſinkt etwas tiefer in den nachgiebigen Sand und dieſelbe Reihenfolge von Bewegungen
wiederholt ſich, bis das Thier ſich hinreichend tief vergraben hat. Beim Leſen dieſer Beſchreibung
könnte man zu glauben veranlaßt werden, es gehe bei jenem Geſchäft ſehr ungeſchickt, unwirkſam
und langſam zu. Weit gefehlt. Die Verlängerungen und Zuſammenziehungen des Fußes geſchehen
mit großer Geſchwindigkeit. Und wenn die Muſchel in voller Kraft und ſehr erſchreckt iſt, ſo
verſchwindet das unbehülfliche Weſen faſt mit Gedanken-Geſchwindigkeit in ihre fandige Feſtung
hinein, ſo geſchwind in der That, daß man ſehr ſchnell ſein muß, es zu überraſchen und ſeinem
Eingraben zuvorzukommen, wenn man ſich nur auf ſeine beiden Hände verlaſſen muß.“

Die eßbare Herzmuſchel gehört mit anderen ihrer Gattung zu den zählebigen Weichthieren,
welche ſehr große Veränderungen der Salzprocente des Meeres aushalten und daher ihr Vorkommen
weit über die Gränzen ausdehnen, welche den für den Salzgehalt ihrer Umgebung empfindlicheren
Thieren geſetzt ſind. Dieß gilt namentlich für ihre Verbreitung in der Oſtſee und im finniſchen
und bottniſchen Meerbuſen. Bei Gelegenheit einer klaſſiſchen Unterſuchung über die Lebens-
bedingungen der Auſter kommt L. E. von Bär darauf zu ſprechen. Er ſagt: „Cardium edule,
das in der Nordſee die Größe eines kleinen Apfels erreicht, fand ich an der Küſte von Schweden,
ſüdlich von Stockholm, außer dem Bereich des ſüßen Waſſers aus dem Mälar und der Strömung
aus dem bottniſchen Buſen, noch bis zur Größe einer Wallnuß, aber nur in bedeutender Tiefe;
in der Nähe des Ufers waren die ausgeworfenen alle kleiner. Bei Königsberg pflegen ſie nur
die Größe von guten Haſelnüſſen zu erreichen, bei Neval aber kann man ſie nur mit kleinen
Haſelnüſſen oder mit grauen Erbſen vergleichen, die größer als die gewöhnlichen gelben Erbſen
zu ſein pflegen“. Auch die eßbare Mießmuſchel findet ſich noch dort, aber ſo verkümmert und
klein, daß ſie nicht mehr zum Genuß einladet. Zu dieſen und anderen, dem eigentlichen wohl-
geſalzenen Meere entſtammenden Muſcheln geſellen ſich dann, ſich in umgekehrter Richtung
akkommodirend, Süßwaſſerthiere, namentlich Limnacen und Paludinen. Was aber die Herz-
muſcheln betrifft, ſo giebt das kaspiſche Meer weitere Belege für ihre Fähigkeit, ſich zu akkommodiren
und umzuformen. Schon jetzt haben ſich die Specialiſten veranlaßt geſehen, dieſe Brakwaſſer-
Kardien zum Theil zu neuen Gattungen zu machen, ſo konſtante Abweichungen in ihrer Schalen-
form haben ſich ſeit den Jahrtauſenden gebildet, ſeit der Zuſammenhang des kaspiſchen Meeres
mit dem Weltmeere durch die Hebung des Landes unterbrochen wurde und die Ausſüßung durch
die großen einmündenden Ströme begann. Die Abzweigung von der ächten Herzmuſchelform iſt
jedoch noch nicht ſo ausgeſprochen, daß nicht der Zuſammenhang klar vor Augen läge. Nach
abermaligem Verlauf von vielen tauſend Jahren oder Zehntauſenden, wir brauchen nicht zu geizen,
werden aus den ehemaligen ächten Seemuſcheln eben ſo ächte, anders geſtaltete, anders ſich
nährende Süßwaſſermuſcheln hervorgegangen ſein, neue Arten und neue Gattungen, auf welche
die Ausflucht der Gegner der Umwandlungslehre, die man ſo oft hören muß, es ſeien ja bloße,
des ſchnellen Rückſchlags fähige Abarten, nicht mehr angewendet werden kann.



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[935/0983] Stachelige und eßbare Herzmuſchel. Boden des Bootes aus über Bord hinweg aus dem Staub gemacht. Wir ſehen alſo, daß einmal die hakige Spitze zur Verſtärkung der Springbewegung dient. Jn noch direkterer Beziehung ſteht ſie aber zu der Gewohnheit des Thieres, zu graben. Wie alle übrigen Arten dieſer ſchönen Sippe wohnt auch dieſe im Sande, wo hinein ſie mit beträchtlicher Gewalt und Schnelligkeit dringen kann. Zu dieſem Behuf wird der Fuß ausgeſtreckt und ſein ſcharfes Ende ſenkrecht in den naſſen Sand getrieben. Die angewendete Muskelkraft reicht hin, mit der ganzen Länge in den feuchten Boden einzudringen, indem die Spitze plötzlich ſeitwärts gebogen wurde und ſo einen ſtarken Haltepunkt gibt. Nun wird das ganze Organ ſtark der Länge nach zuſammengezogen und Thier und Schale kräftig gegen die Mündung der Höhlung angetrieben; die nach unten gerichteten Ränder der Schale werfen den Sand etwas zur Seite. Die vorgeſtreckte Spitze wird dann einen oder zwei Zoll weiter getrieben, wiederum gekrümmt und ein zweiter Ruck gemacht. Die Muſchel ſinkt etwas tiefer in den nachgiebigen Sand und dieſelbe Reihenfolge von Bewegungen wiederholt ſich, bis das Thier ſich hinreichend tief vergraben hat. Beim Leſen dieſer Beſchreibung könnte man zu glauben veranlaßt werden, es gehe bei jenem Geſchäft ſehr ungeſchickt, unwirkſam und langſam zu. Weit gefehlt. Die Verlängerungen und Zuſammenziehungen des Fußes geſchehen mit großer Geſchwindigkeit. Und wenn die Muſchel in voller Kraft und ſehr erſchreckt iſt, ſo verſchwindet das unbehülfliche Weſen faſt mit Gedanken-Geſchwindigkeit in ihre fandige Feſtung hinein, ſo geſchwind in der That, daß man ſehr ſchnell ſein muß, es zu überraſchen und ſeinem Eingraben zuvorzukommen, wenn man ſich nur auf ſeine beiden Hände verlaſſen muß.“ Die eßbare Herzmuſchel gehört mit anderen ihrer Gattung zu den zählebigen Weichthieren, welche ſehr große Veränderungen der Salzprocente des Meeres aushalten und daher ihr Vorkommen weit über die Gränzen ausdehnen, welche den für den Salzgehalt ihrer Umgebung empfindlicheren Thieren geſetzt ſind. Dieß gilt namentlich für ihre Verbreitung in der Oſtſee und im finniſchen und bottniſchen Meerbuſen. Bei Gelegenheit einer klaſſiſchen Unterſuchung über die Lebens- bedingungen der Auſter kommt L. E. von Bär darauf zu ſprechen. Er ſagt: „Cardium edule, das in der Nordſee die Größe eines kleinen Apfels erreicht, fand ich an der Küſte von Schweden, ſüdlich von Stockholm, außer dem Bereich des ſüßen Waſſers aus dem Mälar und der Strömung aus dem bottniſchen Buſen, noch bis zur Größe einer Wallnuß, aber nur in bedeutender Tiefe; in der Nähe des Ufers waren die ausgeworfenen alle kleiner. Bei Königsberg pflegen ſie nur die Größe von guten Haſelnüſſen zu erreichen, bei Neval aber kann man ſie nur mit kleinen Haſelnüſſen oder mit grauen Erbſen vergleichen, die größer als die gewöhnlichen gelben Erbſen zu ſein pflegen“. Auch die eßbare Mießmuſchel findet ſich noch dort, aber ſo verkümmert und klein, daß ſie nicht mehr zum Genuß einladet. Zu dieſen und anderen, dem eigentlichen wohl- geſalzenen Meere entſtammenden Muſcheln geſellen ſich dann, ſich in umgekehrter Richtung akkommodirend, Süßwaſſerthiere, namentlich Limnacen und Paludinen. Was aber die Herz- muſcheln betrifft, ſo giebt das kaspiſche Meer weitere Belege für ihre Fähigkeit, ſich zu akkommodiren und umzuformen. Schon jetzt haben ſich die Specialiſten veranlaßt geſehen, dieſe Brakwaſſer- Kardien zum Theil zu neuen Gattungen zu machen, ſo konſtante Abweichungen in ihrer Schalen- form haben ſich ſeit den Jahrtauſenden gebildet, ſeit der Zuſammenhang des kaspiſchen Meeres mit dem Weltmeere durch die Hebung des Landes unterbrochen wurde und die Ausſüßung durch die großen einmündenden Ströme begann. Die Abzweigung von der ächten Herzmuſchelform iſt jedoch noch nicht ſo ausgeſprochen, daß nicht der Zuſammenhang klar vor Augen läge. Nach abermaligem Verlauf von vielen tauſend Jahren oder Zehntauſenden, wir brauchen nicht zu geizen, werden aus den ehemaligen ächten Seemuſcheln eben ſo ächte, anders geſtaltete, anders ſich nährende Süßwaſſermuſcheln hervorgegangen ſein, neue Arten und neue Gattungen, auf welche die Ausflucht der Gegner der Umwandlungslehre, die man ſo oft hören muß, es ſeien ja bloße, des ſchnellen Rückſchlags fähige Abarten, nicht mehr angewendet werden kann.

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869, S. 935. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben06_1869/983>, abgerufen am 29.03.2024.