sind die Geburtsscheine der Begriffe, die sie bezeichnen. Lässt sich feststellen, dass ein gewisser Rechtsausdruck verschiedenen germani- schen Sprachen gemeinsam war, so liefert diese Thatsache einen beachtenswerten Fingerzeig für das Alter der dadurch bezeichneten Rechtseinrichtung.
Einzelne dunkle Punkte vermag auch die Wissenschaft der ver- gleichenden Rechtsgeschichte aufzuhellen, sofern sie die sicher über- lieferten Nachrichten über die ältesten Rechtszustände anderer, ins- besondere arischer Völker kritisch verwertet.
§ 16. Die politischen Verbände.
J. Weiske, Die Grundlagen der früheren Verfassung Teutschlands, 1836. v. Beth- mann-Hollweg, Die Germanen vor der Völkerwanderung, 1850. Landau, Die Territorien in Bezug auf ihre Bildung und Entwicklung, 1854. Gemeiner, Die Verfassung der Centenen, 1855. Thudichum, Der altdeutsche Staat, 1862; der- selbe, Gau- und Markverfassung, 1860. Baumstark, Urdeutsche Staatsalter- thümer, 1873. Erhardt, Älteste germ. Staatenbildung, 1879. W. Sickel, Der deutsche Freistaat, 1879; derselbe, Zur germ. Verfassungsgesch., Mitteil. des österr. Instituts, Ergänzungsband I 7. Waitz, Verfassungsgesch. I 201 ff. Kemble, The Saxons in England, 2 Bde 1849. K. Maurer, KrÜ I 73 ff. Stubbs, Constitutional History of England I. Munch (Claussen), Die nordisch-germ. Völker S 126.
Die Römer bezeichneten die staatsrechtliche Einheit, die sie bei den Germanen vorfanden, als civitas. Unter den Neueren ist dafür der Ausdruck Völkerschaft üblich geworden. Die Germanen waren in eine grosse Zahl solcher civitates gespalten. Namentlich ist bei den westlichen und mittleren Völkerschaften eine weitgehende politische Zersplitterung wahrzunehmen, wogegen die politischen Verbände des Ostens als umfangreicher erscheinen. Bei gleichartigen Verfassungs- zuständen war es mit gleichem Kraftaufwande möglich den politischen Zusammenhang unter halbnomadischen Volksmassen auf weitere Strecken hin aufrecht zu erhalten, als unter fest angesiedelten Volksteilen, bei welchen eine länger dauernde räumliche Isolierung den Drang zu staatsrechtlicher Absonderung erzeugte. Dazu kam, dass die römische Staatskunst es lange Zeit hindurch verstanden hat, in der Nähe der Reichsgrenzen die gefahrvolle Bildung grösserer germanischer Staats- verbände zu verhindern.
Die civitas ist "eine einzelne politisch selbständige und abge- schlossene Volksgemeinde" 1. Ist das Volk nicht auf der Wanderung, so nimmt die civitas eine räumlich abgegrenzte Landschaft ein, nach
1Müllenhoff, Abhandl. der Berliner Akademie 1862 S 529.
§ 16. Die politischen Verbände.
sind die Geburtsscheine der Begriffe, die sie bezeichnen. Läſst sich feststellen, daſs ein gewisser Rechtsausdruck verschiedenen germani- schen Sprachen gemeinsam war, so liefert diese Thatsache einen beachtenswerten Fingerzeig für das Alter der dadurch bezeichneten Rechtseinrichtung.
Einzelne dunkle Punkte vermag auch die Wissenschaft der ver- gleichenden Rechtsgeschichte aufzuhellen, sofern sie die sicher über- lieferten Nachrichten über die ältesten Rechtszustände anderer, ins- besondere arischer Völker kritisch verwertet.
§ 16. Die politischen Verbände.
J. Weiske, Die Grundlagen der früheren Verfassung Teutschlands, 1836. v. Beth- mann-Hollweg, Die Germanen vor der Völkerwanderung, 1850. Landau, Die Territorien in Bezug auf ihre Bildung und Entwicklung, 1854. Gemeiner, Die Verfassung der Centenen, 1855. Thudichum, Der altdeutsche Staat, 1862; der- selbe, Gau- und Markverfassung, 1860. Baumstark, Urdeutsche Staatsalter- thümer, 1873. Erhardt, Älteste germ. Staatenbildung, 1879. W. Sickel, Der deutsche Freistaat, 1879; derselbe, Zur germ. Verfassungsgesch., Mitteil. des österr. Instituts, Ergänzungsband I 7. Waitz, Verfassungsgesch. I 201 ff. Kemble, The Saxons in England, 2 Bde 1849. K. Maurer, KrÜ I 73 ff. Stubbs, Constitutional History of England I. Munch (Clauſsen), Die nordisch-germ. Völker S 126.
Die Römer bezeichneten die staatsrechtliche Einheit, die sie bei den Germanen vorfanden, als civitas. Unter den Neueren ist dafür der Ausdruck Völkerschaft üblich geworden. Die Germanen waren in eine groſse Zahl solcher civitates gespalten. Namentlich ist bei den westlichen und mittleren Völkerschaften eine weitgehende politische Zersplitterung wahrzunehmen, wogegen die politischen Verbände des Ostens als umfangreicher erscheinen. Bei gleichartigen Verfassungs- zuständen war es mit gleichem Kraftaufwande möglich den politischen Zusammenhang unter halbnomadischen Volksmassen auf weitere Strecken hin aufrecht zu erhalten, als unter fest angesiedelten Volksteilen, bei welchen eine länger dauernde räumliche Isolierung den Drang zu staatsrechtlicher Absonderung erzeugte. Dazu kam, daſs die römische Staatskunst es lange Zeit hindurch verstanden hat, in der Nähe der Reichsgrenzen die gefahrvolle Bildung gröſserer germanischer Staats- verbände zu verhindern.
Die civitas ist „eine einzelne politisch selbständige und abge- schlossene Volksgemeinde“ 1. Ist das Volk nicht auf der Wanderung, so nimmt die civitas eine räumlich abgegrenzte Landschaft ein, nach
1Müllenhoff, Abhandl. der Berliner Akademie 1862 S 529.
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§ 16. Die politischen Verbände.
sind die Geburtsscheine der Begriffe, die sie bezeichnen. Läſst sich
feststellen, daſs ein gewisser Rechtsausdruck verschiedenen germani-
schen Sprachen gemeinsam war, so liefert diese Thatsache einen
beachtenswerten Fingerzeig für das Alter der dadurch bezeichneten
Rechtseinrichtung.
Einzelne dunkle Punkte vermag auch die Wissenschaft der ver-
gleichenden Rechtsgeschichte aufzuhellen, sofern sie die sicher über-
lieferten Nachrichten über die ältesten Rechtszustände anderer, ins-
besondere arischer Völker kritisch verwertet.
§ 16. Die politischen Verbände.
J. Weiske, Die Grundlagen der früheren Verfassung Teutschlands, 1836. v. Beth-
mann-Hollweg, Die Germanen vor der Völkerwanderung, 1850. Landau, Die
Territorien in Bezug auf ihre Bildung und Entwicklung, 1854. Gemeiner, Die
Verfassung der Centenen, 1855. Thudichum, Der altdeutsche Staat, 1862; der-
selbe, Gau- und Markverfassung, 1860. Baumstark, Urdeutsche Staatsalter-
thümer, 1873. Erhardt, Älteste germ. Staatenbildung, 1879. W. Sickel, Der
deutsche Freistaat, 1879; derselbe, Zur germ. Verfassungsgesch., Mitteil. des österr.
Instituts, Ergänzungsband I 7. Waitz, Verfassungsgesch. I 201 ff. Kemble, The
Saxons in England, 2 Bde 1849. K. Maurer, KrÜ I 73 ff. Stubbs, Constitutional
History of England I. Munch (Clauſsen), Die nordisch-germ. Völker S 126.
Die Römer bezeichneten die staatsrechtliche Einheit, die sie bei
den Germanen vorfanden, als civitas. Unter den Neueren ist dafür
der Ausdruck Völkerschaft üblich geworden. Die Germanen waren in
eine groſse Zahl solcher civitates gespalten. Namentlich ist bei den
westlichen und mittleren Völkerschaften eine weitgehende politische
Zersplitterung wahrzunehmen, wogegen die politischen Verbände des
Ostens als umfangreicher erscheinen. Bei gleichartigen Verfassungs-
zuständen war es mit gleichem Kraftaufwande möglich den politischen
Zusammenhang unter halbnomadischen Volksmassen auf weitere Strecken
hin aufrecht zu erhalten, als unter fest angesiedelten Volksteilen, bei
welchen eine länger dauernde räumliche Isolierung den Drang zu
staatsrechtlicher Absonderung erzeugte. Dazu kam, daſs die römische
Staatskunst es lange Zeit hindurch verstanden hat, in der Nähe der
Reichsgrenzen die gefahrvolle Bildung gröſserer germanischer Staats-
verbände zu verhindern.
Die civitas ist „eine einzelne politisch selbständige und abge-
schlossene Volksgemeinde“ 1. Ist das Volk nicht auf der Wanderung,
so nimmt die civitas eine räumlich abgegrenzte Landschaft ein, nach
1 Müllenhoff, Abhandl. der Berliner Akademie 1862 S 529.
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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/132>, abgerufen am 29.09.2023.
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