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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 28. Die Sippe.

S. die Litteratur zu § 13 und Heusler, Institutionen II 272 ff. 480 ff.

Der Sippeverband, der mit ungebrochener Kraft in die fränkische
Zeit eintrat, hat sich im grossen und ganzen als ein wesentlicher
Faktor der gesellschaftlichen Ordnung behauptet. Die Energie, mit
welcher die Rechtsanschauungen des Volkes an den Pflichten der
Sippe festhielten, wird durch die Thatsache beleuchtet, dass vereinzelte
Züge der germanischen Geschlechtsverfassung, wie die Rachepflicht
und die Eideshilfe, in die Rechtssitten der römischen Bevölkerung
eingedrungen sind. Dennoch hat im Verlaufe der fränkischen Periode
die Stellung der Sippe nach verschiedenen Richtungen hin eine Ab-
schwächung erfahren. Die erstarkende Staatsgewalt hat es versucht
und zum Teil auch durchgesetzt, die Funktionen der Sippe einzu-
schränken. Die Stellung des Hausherrn und der Hausgenossenschaft
wurde der Sippe gegenüber eine freiere und unabhängigere. Unter
nicht verwandten Personen entstanden persönliche Treuverhältnisse,
welche den durch die Sippe gewährten Schutz überboten. Diesen
Auflösungstendenzen gegenüber hat sich die Geschlossenheit der Sippe
bei den Niederdeutschen im allgemeinen zäher bewahrt wie bei den
Oberdeutschen.

Der Umfang der Sippe wird in dieser Zeit bei den verschiedenen
Stämmen wenigstens in gewissen Beziehungen rechtlich fixiert. Die
Staatsgewalt machte nämlich im Verhältnis zu den vermögensrechtlichen
Ansprüchen, welche die Blutsverwandtschaft gewährte, bei einem be-
stimmten Knie das Ende der Sippe geltend, indem sie, wenn Verwandte
innerhalb dieses Knies nicht vorhanden waren, das Erbe, das Wergeld
und die Heiratsgebühren mit Ausschluss entfernterer Kniee an sich zog.
Bei den Ribuariern1 und Thüringern2 wird das fünfte, bei den Sal-
franken das sechste3, bei den Baiern4, Langobarden5 und wohl auch
bei den Sachsen6 das siebente Glied als das Ende der Sippe ge-
rechnet, eine Verschiedenheit, welche zum Teil vielleicht auf
verschiedenartigem Beginn der Kniezählung beruht7. Offenbar weil

1 Lex Rib. 56, 3: usque quinto genuclo.
2 Lex Angl. 34: usque ad quintam generationem.
3 Lex Sal. 44, 10: iam post sexto genuculum.
4 Lex Baiuw. XV 10, 4: si ... nullus usque ad septimum gradum de pro-
pinquis et quibuscumque parentibus invenitur ...
5 Rothari 153: usque in septimum geniculum (parentilla) nomeretur.
6 Lex Sax. 18. Vgl. Sachsenspiegel I 3 § 3.
7 Je nachdem die Geschwisterkinder als erstes, oder als zweites, oder wie bei
§ 28. Die Sippe.

S. die Litteratur zu § 13 und Heusler, Institutionen II 272 ff. 480 ff.

Der Sippeverband, der mit ungebrochener Kraft in die fränkische
Zeit eintrat, hat sich im groſsen und ganzen als ein wesentlicher
Faktor der gesellschaftlichen Ordnung behauptet. Die Energie, mit
welcher die Rechtsanschauungen des Volkes an den Pflichten der
Sippe festhielten, wird durch die Thatsache beleuchtet, daſs vereinzelte
Züge der germanischen Geschlechtsverfassung, wie die Rachepflicht
und die Eideshilfe, in die Rechtssitten der römischen Bevölkerung
eingedrungen sind. Dennoch hat im Verlaufe der fränkischen Periode
die Stellung der Sippe nach verschiedenen Richtungen hin eine Ab-
schwächung erfahren. Die erstarkende Staatsgewalt hat es versucht
und zum Teil auch durchgesetzt, die Funktionen der Sippe einzu-
schränken. Die Stellung des Hausherrn und der Hausgenossenschaft
wurde der Sippe gegenüber eine freiere und unabhängigere. Unter
nicht verwandten Personen entstanden persönliche Treuverhältnisse,
welche den durch die Sippe gewährten Schutz überboten. Diesen
Auflösungstendenzen gegenüber hat sich die Geschlossenheit der Sippe
bei den Niederdeutschen im allgemeinen zäher bewahrt wie bei den
Oberdeutschen.

Der Umfang der Sippe wird in dieser Zeit bei den verschiedenen
Stämmen wenigstens in gewissen Beziehungen rechtlich fixiert. Die
Staatsgewalt machte nämlich im Verhältnis zu den vermögensrechtlichen
Ansprüchen, welche die Blutsverwandtschaft gewährte, bei einem be-
stimmten Knie das Ende der Sippe geltend, indem sie, wenn Verwandte
innerhalb dieses Knies nicht vorhanden waren, das Erbe, das Wergeld
und die Heiratsgebühren mit Ausschluſs entfernterer Kniee an sich zog.
Bei den Ribuariern1 und Thüringern2 wird das fünfte, bei den Sal-
franken das sechste3, bei den Baiern4, Langobarden5 und wohl auch
bei den Sachsen6 das siebente Glied als das Ende der Sippe ge-
rechnet, eine Verschiedenheit, welche zum Teil vielleicht auf
verschiedenartigem Beginn der Kniezählung beruht7. Offenbar weil

1 Lex Rib. 56, 3: usque quinto genuclo.
2 Lex Angl. 34: usque ad quintam generationem.
3 Lex Sal. 44, 10: iam post sexto genuculum.
4 Lex Baiuw. XV 10, 4: si … nullus usque ad septimum gradum de pro-
pinquis et quibuscumque parentibus invenitur …
5 Rothari 153: usque in septimum geniculum (parentilla) nomeretur.
6 Lex Sax. 18. Vgl. Sachsenspiegel I 3 § 3.
7 Je nachdem die Geschwisterkinder als erstes, oder als zweites, oder wie bei
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[217/0235] § 28. Die Sippe. S. die Litteratur zu § 13 und Heusler, Institutionen II 272 ff. 480 ff. Der Sippeverband, der mit ungebrochener Kraft in die fränkische Zeit eintrat, hat sich im groſsen und ganzen als ein wesentlicher Faktor der gesellschaftlichen Ordnung behauptet. Die Energie, mit welcher die Rechtsanschauungen des Volkes an den Pflichten der Sippe festhielten, wird durch die Thatsache beleuchtet, daſs vereinzelte Züge der germanischen Geschlechtsverfassung, wie die Rachepflicht und die Eideshilfe, in die Rechtssitten der römischen Bevölkerung eingedrungen sind. Dennoch hat im Verlaufe der fränkischen Periode die Stellung der Sippe nach verschiedenen Richtungen hin eine Ab- schwächung erfahren. Die erstarkende Staatsgewalt hat es versucht und zum Teil auch durchgesetzt, die Funktionen der Sippe einzu- schränken. Die Stellung des Hausherrn und der Hausgenossenschaft wurde der Sippe gegenüber eine freiere und unabhängigere. Unter nicht verwandten Personen entstanden persönliche Treuverhältnisse, welche den durch die Sippe gewährten Schutz überboten. Diesen Auflösungstendenzen gegenüber hat sich die Geschlossenheit der Sippe bei den Niederdeutschen im allgemeinen zäher bewahrt wie bei den Oberdeutschen. Der Umfang der Sippe wird in dieser Zeit bei den verschiedenen Stämmen wenigstens in gewissen Beziehungen rechtlich fixiert. Die Staatsgewalt machte nämlich im Verhältnis zu den vermögensrechtlichen Ansprüchen, welche die Blutsverwandtschaft gewährte, bei einem be- stimmten Knie das Ende der Sippe geltend, indem sie, wenn Verwandte innerhalb dieses Knies nicht vorhanden waren, das Erbe, das Wergeld und die Heiratsgebühren mit Ausschluſs entfernterer Kniee an sich zog. Bei den Ribuariern 1 und Thüringern 2 wird das fünfte, bei den Sal- franken das sechste 3, bei den Baiern 4, Langobarden 5 und wohl auch bei den Sachsen 6 das siebente Glied als das Ende der Sippe ge- rechnet, eine Verschiedenheit, welche zum Teil vielleicht auf verschiedenartigem Beginn der Kniezählung beruht 7. Offenbar weil 1 Lex Rib. 56, 3: usque quinto genuclo. 2 Lex Angl. 34: usque ad quintam generationem. 3 Lex Sal. 44, 10: iam post sexto genuculum. 4 Lex Baiuw. XV 10, 4: si … nullus usque ad septimum gradum de pro- pinquis et quibuscumque parentibus invenitur … 5 Rothari 153: usque in septimum geniculum (parentilla) nomeretur. 6 Lex Sax. 18. Vgl. Sachsenspiegel I 3 § 3. 7 Je nachdem die Geschwisterkinder als erstes, oder als zweites, oder wie bei

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/235>, abgerufen am 18.04.2024.