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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 28. Die Sippe.
Übernahme der Vormundschaft durch den geborenen Vormund, bei seiner
Absetzung und bei der Beendigung der Vormundschaft fungiert die Sippe.
Nachmals verwaltet der friesische Vormund das Mündelgut mit dem
Rate der Freunde, der holländische mit dem der vier Vierendeele,
der nordfranzösische de l'avis des parents. Mitunter wird dem Vor-
mund ein Ausschuss der Sippe zur Seite gesetzt 31. Treten uns später
die Zeugnisse über die obervormundschaftliche Stellung der Sippe
zumal in den salischen Tochterrechten und im friesischen Rechte
entgegen, so fehlt es doch an solchen auch nicht in dem Bereiche der
sächsischen und der oberdeutschen Rechtsquellen 32.

Das Eingreifen der Staatsgewalt machte sich in Sachen der Vor-
mundschaft am frühesten und am kräftigsten bei den Langobarden
geltend, eine Thatsache, die um so mehr ins Gewicht fällt, als die
spätere gemeinrechtliche Ausgestaltung der Obervormundschaft unter
dem massgebenden Einfluss der italienischen Rechtslehre erfolgte. Bei
Rechtsstreitigkeiten, bei Veräusserungen, bei Erbteilungen des un-
jährigen Mündels greift der langobardische Richter von Amts wegen
ein 33. Auch bei Rechtsgeschäften von Frauen kommt die richterliche
Mitwirkung unter dem Gesichtspunkte der Obervormundschaft zur Gel-
tung 34. Im fränkischen Reiche erscheint die allgemeine Fürsorge für
Witwen und Waisen theoretisch als Aufgabe des Königtums. Witwen
und Waisen stehen in dem besonderen Friedensbanne des Königs.
Die Richter sollen ihre Rechtssachen in erster Linie erledigen und
ihnen im Notfall einen Sachwalter geben 35. Gebricht es an Ver-
wandten, so kann der König das Mundium an sich ziehen 36. Ganz
allgemein sagt Karl der Grosse, dass er den Witwen und Waisen zum
protector et defensor gesetzt sei 37. Zu einer organischen Verwaltung

c. 7), dass der Vormund, wenn er nicht letztwillig ernannt worden ist, von alters-
her durch die vier Vierendeele bestimmt werde. Französische Coutumes (Loisel,
Instit., hg. von Dupin et Laboulaye, Nr 181, I 211) haben den Rechtssatz, dass die
Verwandten, die einen Vormund ernennen, subsidiär haften, wenn er aus der Vor-
mundschaftsverwaltung ersatzpflichtig geworden ist.
31 Nach dem Brokmerbrief v. Richthofen, Fries. RQ S 164 § 93 ein Rat
von vier Magen. Über die vier Momber des Drenter Rechts s. oben S 90.
32 Kraut, Vormundschaft I 62. Stobbe, Deutsches Privatr. IV 436 Anm 13,
444 Anm 1, 446 Anm 6. Grimm, Weisthümer III 648 § 18, I 202. 278. 378, V
201 § 16, III 197.
33 Liutpr. 19. 74. 75.
34 Rosin, Die Formvorschriften für die Veräusserungsgeschäfte der Frauen
nach langob. Recht, 1880 in Gierkes Untersuchungen VIII.
35 Cap. I 37 c. 23, I 190 (langob.) c. 1, I 93 c. 9, I 281 c. 3, I 192 (langob.) c. 5.
36 Cap. I zur Lex Sal. c. 7.
37 Cap. I 93 c. 5.

§ 28. Die Sippe.
Übernahme der Vormundschaft durch den geborenen Vormund, bei seiner
Absetzung und bei der Beendigung der Vormundschaft fungiert die Sippe.
Nachmals verwaltet der friesische Vormund das Mündelgut mit dem
Rate der Freunde, der holländische mit dem der vier Vierendeele,
der nordfranzösische de l’avis des parents. Mitunter wird dem Vor-
mund ein Ausschuſs der Sippe zur Seite gesetzt 31. Treten uns später
die Zeugnisse über die obervormundschaftliche Stellung der Sippe
zumal in den salischen Tochterrechten und im friesischen Rechte
entgegen, so fehlt es doch an solchen auch nicht in dem Bereiche der
sächsischen und der oberdeutschen Rechtsquellen 32.

Das Eingreifen der Staatsgewalt machte sich in Sachen der Vor-
mundschaft am frühesten und am kräftigsten bei den Langobarden
geltend, eine Thatsache, die um so mehr ins Gewicht fällt, als die
spätere gemeinrechtliche Ausgestaltung der Obervormundschaft unter
dem maſsgebenden Einfluſs der italienischen Rechtslehre erfolgte. Bei
Rechtsstreitigkeiten, bei Veräuſserungen, bei Erbteilungen des un-
jährigen Mündels greift der langobardische Richter von Amts wegen
ein 33. Auch bei Rechtsgeschäften von Frauen kommt die richterliche
Mitwirkung unter dem Gesichtspunkte der Obervormundschaft zur Gel-
tung 34. Im fränkischen Reiche erscheint die allgemeine Fürsorge für
Witwen und Waisen theoretisch als Aufgabe des Königtums. Witwen
und Waisen stehen in dem besonderen Friedensbanne des Königs.
Die Richter sollen ihre Rechtssachen in erster Linie erledigen und
ihnen im Notfall einen Sachwalter geben 35. Gebricht es an Ver-
wandten, so kann der König das Mundium an sich ziehen 36. Ganz
allgemein sagt Karl der Groſse, daſs er den Witwen und Waisen zum
protector et defensor gesetzt sei 37. Zu einer organischen Verwaltung

c. 7), daſs der Vormund, wenn er nicht letztwillig ernannt worden ist, von alters-
her durch die vier Vierendeele bestimmt werde. Französische Coutumes (Loisel,
Instit., hg. von Dupin et Laboulaye, Nr 181, I 211) haben den Rechtssatz, daſs die
Verwandten, die einen Vormund ernennen, subsidiär haften, wenn er aus der Vor-
mundschaftsverwaltung ersatzpflichtig geworden ist.
31 Nach dem Brokmerbrief v. Richthofen, Fries. RQ S 164 § 93 ein Rat
von vier Magen. Über die vier Momber des Drenter Rechts s. oben S 90.
32 Kraut, Vormundschaft I 62. Stobbe, Deutsches Privatr. IV 436 Anm 13,
444 Anm 1, 446 Anm 6. Grimm, Weisthümer III 648 § 18, I 202. 278. 378, V
201 § 16, III 197.
33 Liutpr. 19. 74. 75.
34 Rosin, Die Formvorschriften für die Veräuſserungsgeschäfte der Frauen
nach langob. Recht, 1880 in Gierkes Untersuchungen VIII.
35 Cap. I 37 c. 23, I 190 (langob.) c. 1, I 93 c. 9, I 281 c. 3, I 192 (langob.) c. 5.
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[223/0241] § 28. Die Sippe. Übernahme der Vormundschaft durch den geborenen Vormund, bei seiner Absetzung und bei der Beendigung der Vormundschaft fungiert die Sippe. Nachmals verwaltet der friesische Vormund das Mündelgut mit dem Rate der Freunde, der holländische mit dem der vier Vierendeele, der nordfranzösische de l’avis des parents. Mitunter wird dem Vor- mund ein Ausschuſs der Sippe zur Seite gesetzt 31. Treten uns später die Zeugnisse über die obervormundschaftliche Stellung der Sippe zumal in den salischen Tochterrechten und im friesischen Rechte entgegen, so fehlt es doch an solchen auch nicht in dem Bereiche der sächsischen und der oberdeutschen Rechtsquellen 32. Das Eingreifen der Staatsgewalt machte sich in Sachen der Vor- mundschaft am frühesten und am kräftigsten bei den Langobarden geltend, eine Thatsache, die um so mehr ins Gewicht fällt, als die spätere gemeinrechtliche Ausgestaltung der Obervormundschaft unter dem maſsgebenden Einfluſs der italienischen Rechtslehre erfolgte. Bei Rechtsstreitigkeiten, bei Veräuſserungen, bei Erbteilungen des un- jährigen Mündels greift der langobardische Richter von Amts wegen ein 33. Auch bei Rechtsgeschäften von Frauen kommt die richterliche Mitwirkung unter dem Gesichtspunkte der Obervormundschaft zur Gel- tung 34. Im fränkischen Reiche erscheint die allgemeine Fürsorge für Witwen und Waisen theoretisch als Aufgabe des Königtums. Witwen und Waisen stehen in dem besonderen Friedensbanne des Königs. Die Richter sollen ihre Rechtssachen in erster Linie erledigen und ihnen im Notfall einen Sachwalter geben 35. Gebricht es an Ver- wandten, so kann der König das Mundium an sich ziehen 36. Ganz allgemein sagt Karl der Groſse, daſs er den Witwen und Waisen zum protector et defensor gesetzt sei 37. Zu einer organischen Verwaltung 30 31 Nach dem Brokmerbrief v. Richthofen, Fries. RQ S 164 § 93 ein Rat von vier Magen. Über die vier Momber des Drenter Rechts s. oben S 90. 32 Kraut, Vormundschaft I 62. Stobbe, Deutsches Privatr. IV 436 Anm 13, 444 Anm 1, 446 Anm 6. Grimm, Weisthümer III 648 § 18, I 202. 278. 378, V 201 § 16, III 197. 33 Liutpr. 19. 74. 75. 34 Rosin, Die Formvorschriften für die Veräuſserungsgeschäfte der Frauen nach langob. Recht, 1880 in Gierkes Untersuchungen VIII. 35 Cap. I 37 c. 23, I 190 (langob.) c. 1, I 93 c. 9, I 281 c. 3, I 192 (langob.) c. 5. 36 Cap. I zur Lex Sal. c. 7. 37 Cap. I 93 c. 5. 30 c. 7), daſs der Vormund, wenn er nicht letztwillig ernannt worden ist, von alters- her durch die vier Vierendeele bestimmt werde. Französische Coutumes (Loisel, Instit., hg. von Dupin et Laboulaye, Nr 181, I 211) haben den Rechtssatz, daſs die Verwandten, die einen Vormund ernennen, subsidiär haften, wenn er aus der Vor- mundschaftsverwaltung ersatzpflichtig geworden ist.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/241>, abgerufen am 25.04.2024.