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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 32. Adel und Freie.
lich des höheren Reichsamtes beseitigt und im übrigen jene Entwick-
lung wenigstens zum Stehen gebracht. Allein gegen Ende der
karolingischen Zeit neigen das Grafenamt und das Dienstverhältnis
der Vassallität ganz entschieden zur Erblichkeit hin, welche dann in
der folgenden Periode zur rechtlichen Anerkennung gelangt ist.

Wie der alte Volksadel, der -- von Friesland abgesehen -- in
den neuen Dienstadel aufging, ist auch der Stand der Freien (liberi,
ingenui, franci 29) zersetzt worden. Nicht nur dass er seine kräftigsten
Elemente an den neuen Dienstadel verlor, hat sich auch ein Stand
von Minderfreien abgezweigt, der unter den Gemeinfreien steht. Der
Grund der Freiheitsminderung ist ein Abhängigkeitsverhältnis niederer
Ordnung.

Aus vereinzelten Nachrichten der merowingischen Zeit lässt sich
entnehmen, dass die Unterwerfung unter die Kopfsteuer, welche nach
der römischen Steuerverfassung die Kolonen und die plebs urbana
belastet hatte 30, als ein Zeichen mangelnder Vollfreiheit angesehen
wurde 31. Wie die Freiheitsminderung, die in der Volksmeinung ohne
Zweifel mit der Kopfsteuerpflicht verbunden war, sich in rechtlichen
Wirkungen äusserte, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen.

Dagegen hatte die Pflicht zur Entrichtung eines Zinses, der nicht
de capite, sondern für ein Leihegut bezahlt wurde, an sich eine
capitis deminutio nicht zur Folge. Auch der freie Hintersasse gilt für
vollfrei und bleibt ohne Änderung seines Gerichtsstandes in un-
geschmälertem Genusse des Landrechtes, so lange er wie andere Freie
persönlich in Heer und Gericht erscheint und Dritten gegenüber für
sich einsteht. Eine Schmälerung des Wergeldes führte die Stellung des
freien Hintersassen nicht herbei. Im alamannischen Volksrechte ist
das Wergeld des liber ecclesiae, quem colonum vocant, dem der
übrigen Alamannen gleichgestellt 32.

Verschiedene Ursachen mussten zusammenwirken, um einen Teil

mit Vorbehalt an. Roth, Feudalität S 223 sieht in dem Francus homo den
Vassallen. Aber die Stellung des Francus homo ist augenscheinlich eine erbliche,
er hat Grundeigentum, das er auf die Söhne vererbt und, wie es scheint, nicht ver
äussern kann.
29 Bei den Langobarden hiessen sie arimanni, exercitales.
30 Karlowa, Röm. RG I 909 ff.
31 Gregor. Tur. Hist. Fr. VII 15: Ipse (Audo iudex) cum Mummulo praefecto
multos de Francis, qui tempore Childeberthi regis senioris ingenui fuerant, publico
tributo subegit. In Marculf I 19 giebt der König die Erlaubnis, dass jemand sich
zum Kleriker scheren lasse, se memoratus ille de caput suum bene ingenuus esse
videtur et in poleptico publico (im Steuerkataster) censitus non est.
32 Lex Alam. 8 B.

§ 32. Adel und Freie.
lich des höheren Reichsamtes beseitigt und im übrigen jene Entwick-
lung wenigstens zum Stehen gebracht. Allein gegen Ende der
karolingischen Zeit neigen das Grafenamt und das Dienstverhältnis
der Vassallität ganz entschieden zur Erblichkeit hin, welche dann in
der folgenden Periode zur rechtlichen Anerkennung gelangt ist.

Wie der alte Volksadel, der — von Friesland abgesehen — in
den neuen Dienstadel aufging, ist auch der Stand der Freien (liberi,
ingenui, franci 29) zersetzt worden. Nicht nur daſs er seine kräftigsten
Elemente an den neuen Dienstadel verlor, hat sich auch ein Stand
von Minderfreien abgezweigt, der unter den Gemeinfreien steht. Der
Grund der Freiheitsminderung ist ein Abhängigkeitsverhältnis niederer
Ordnung.

Aus vereinzelten Nachrichten der merowingischen Zeit läſst sich
entnehmen, daſs die Unterwerfung unter die Kopfsteuer, welche nach
der römischen Steuerverfassung die Kolonen und die plebs urbana
belastet hatte 30, als ein Zeichen mangelnder Vollfreiheit angesehen
wurde 31. Wie die Freiheitsminderung, die in der Volksmeinung ohne
Zweifel mit der Kopfsteuerpflicht verbunden war, sich in rechtlichen
Wirkungen äuſserte, läſst sich nicht mit Sicherheit bestimmen.

Dagegen hatte die Pflicht zur Entrichtung eines Zinses, der nicht
de capite, sondern für ein Leihegut bezahlt wurde, an sich eine
capitis deminutio nicht zur Folge. Auch der freie Hintersasse gilt für
vollfrei und bleibt ohne Änderung seines Gerichtsstandes in un-
geschmälertem Genusse des Landrechtes, so lange er wie andere Freie
persönlich in Heer und Gericht erscheint und Dritten gegenüber für
sich einsteht. Eine Schmälerung des Wergeldes führte die Stellung des
freien Hintersassen nicht herbei. Im alamannischen Volksrechte ist
das Wergeld des liber ecclesiae, quem colonum vocant, dem der
übrigen Alamannen gleichgestellt 32.

Verschiedene Ursachen muſsten zusammenwirken, um einen Teil

mit Vorbehalt an. Roth, Feudalität S 223 sieht in dem Francus homo den
Vassallen. Aber die Stellung des Francus homo ist augenscheinlich eine erbliche,
er hat Grundeigentum, das er auf die Söhne vererbt und, wie es scheint, nicht ver
äuſsern kann.
29 Bei den Langobarden hieſsen sie arimanni, exercitales.
30 Karlowa, Röm. RG I 909 ff.
31 Gregor. Tur. Hist. Fr. VII 15: Ipse (Audo iudex) cum Mummulo praefecto
multos de Francis, qui tempore Childeberthi regis senioris ingenui fuerant, publico
tributo subegit. In Marculf I 19 giebt der König die Erlaubnis, daſs jemand sich
zum Kleriker scheren lasse, se memoratus ille de caput suum bene ingenuus esse
videtur et in poleptico publico (im Steuerkataster) censitus non est.
32 Lex Alam. 8 B.
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[253/0271] § 32. Adel und Freie. lich des höheren Reichsamtes beseitigt und im übrigen jene Entwick- lung wenigstens zum Stehen gebracht. Allein gegen Ende der karolingischen Zeit neigen das Grafenamt und das Dienstverhältnis der Vassallität ganz entschieden zur Erblichkeit hin, welche dann in der folgenden Periode zur rechtlichen Anerkennung gelangt ist. Wie der alte Volksadel, der — von Friesland abgesehen — in den neuen Dienstadel aufging, ist auch der Stand der Freien (liberi, ingenui, franci 29) zersetzt worden. Nicht nur daſs er seine kräftigsten Elemente an den neuen Dienstadel verlor, hat sich auch ein Stand von Minderfreien abgezweigt, der unter den Gemeinfreien steht. Der Grund der Freiheitsminderung ist ein Abhängigkeitsverhältnis niederer Ordnung. Aus vereinzelten Nachrichten der merowingischen Zeit läſst sich entnehmen, daſs die Unterwerfung unter die Kopfsteuer, welche nach der römischen Steuerverfassung die Kolonen und die plebs urbana belastet hatte 30, als ein Zeichen mangelnder Vollfreiheit angesehen wurde 31. Wie die Freiheitsminderung, die in der Volksmeinung ohne Zweifel mit der Kopfsteuerpflicht verbunden war, sich in rechtlichen Wirkungen äuſserte, läſst sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Dagegen hatte die Pflicht zur Entrichtung eines Zinses, der nicht de capite, sondern für ein Leihegut bezahlt wurde, an sich eine capitis deminutio nicht zur Folge. Auch der freie Hintersasse gilt für vollfrei und bleibt ohne Änderung seines Gerichtsstandes in un- geschmälertem Genusse des Landrechtes, so lange er wie andere Freie persönlich in Heer und Gericht erscheint und Dritten gegenüber für sich einsteht. Eine Schmälerung des Wergeldes führte die Stellung des freien Hintersassen nicht herbei. Im alamannischen Volksrechte ist das Wergeld des liber ecclesiae, quem colonum vocant, dem der übrigen Alamannen gleichgestellt 32. Verschiedene Ursachen muſsten zusammenwirken, um einen Teil 28 29 Bei den Langobarden hieſsen sie arimanni, exercitales. 30 Karlowa, Röm. RG I 909 ff. 31 Gregor. Tur. Hist. Fr. VII 15: Ipse (Audo iudex) cum Mummulo praefecto multos de Francis, qui tempore Childeberthi regis senioris ingenui fuerant, publico tributo subegit. In Marculf I 19 giebt der König die Erlaubnis, daſs jemand sich zum Kleriker scheren lasse, se memoratus ille de caput suum bene ingenuus esse videtur et in poleptico publico (im Steuerkataster) censitus non est. 32 Lex Alam. 8 B. 28 mit Vorbehalt an. Roth, Feudalität S 223 sieht in dem Francus homo den Vassallen. Aber die Stellung des Francus homo ist augenscheinlich eine erbliche, er hat Grundeigentum, das er auf die Söhne vererbt und, wie es scheint, nicht ver äuſsern kann.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/271>, abgerufen am 29.03.2024.