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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 37. Die Entstehung geschriebenen Rechts.
rechte sich nachweislich einer grossen handschriftlichen Verbreitung
erfreuten 2. Die im Herzen Deutschlands sesshaften Hessen, die Ost-
franken und die oberdeutschen Thüringer haben bezeichnender Weise
in fränkischer Zeit keinerlei geschriebenes Recht aufzuweisen.

Während sich die Mehrzahl der germanischen Stämme gedrungen
fand, das ungeschriebene Recht wenigstens teilweise durch geschriebenes
zu ersetzen, litt die römische Bevölkerung der germanischen Reiche
an der erdrückenden Masse geschriebenen Rechtsstoffes. Die Schriften
der römischen Juristen, die vorhandenen Sammlungen der kaiserlichen
Konstitutionen und die spätrömische Interpretationslitteratur bildeten
ein umfangreiches Quellenmaterial, welches die Rechtspraxis nicht mehr
zu beherrschen vermochte. Es stellte sich daher in den germanischen
Reichen das Bedürfnis ein, die Überfülle des vorhandenen Quellen-
bestandes zu sichten, den überlieferten Stoff zu reduzieren und Rechts-
sammlungen herzustellen, welchen die juristische Fassungskraft der
Romanen noch gewachsen war. Arbeiten dieser Art entstanden im
ostgotischen, im westgotischen und im burgundischen Reiche. Aber
auch das brauchbarste dieser Rechtsbücher, das westgotische Bre-
viarium wurde, da die römische Bevölkerung unter germanischer Herr-
schaft mehr und mehr die geistige Beherrschung ihres geschriebenen
Rechts verlernte, schliesslich als eine zu schwere Bürde empfunden.
Man hat daher Auszüge aus dem Breviarium verfasst, welche häufiger
als dieses gebraucht wurden.

Unter den Rechtsquellen der fränkischen Zeit sind die Volks-
rechte, die Kapitularien, die Urkunden und die Formelsammlungen
zu unterscheiden. Den ältesten Grundstock des geschriebenen Rechts
bilden die Volksrechte, welchen die römischen Rechtsbücher der Ger-
manenreiche zur Seite zu stellen sind. Zu ihnen treten die Verord-
nungen und Kapitularien der fränkischen Könige und Hausmeier als
eine jüngere Schicht geschriebenen Rechts hinzu.

Das germanische Urkundenwesen verdankt seine Entstehung der
unmittelbaren Entlehnung aus dem römischen Rechtsleben, ist aber
in seiner Fortbildung selbständige Wege gegangen. Ausserhalb Ita-
liens, des ältesten und reichsten Urkundenlandes, kam das Urkunden-
wesen zuerst in Neustrien und dann in Austrasien zur Entfaltung,
diesseits des Rheins besonders in Schwaben und Baiern, während
Friesland und Sachsen nur geringe Urkundenschätze aufweisen. Um

2 Die neuesten Ausgaben verzeichnen von der Lex Salica mehr als 60, von
der Lex Ribuaria mehr als 30, von der Lex Alamannorum nahezu 50, von der
Lex Baiuwariorum 30 Handschriften, die verschollenen nicht mit gerechnet.

§ 37. Die Entstehung geschriebenen Rechts.
rechte sich nachweislich einer groſsen handschriftlichen Verbreitung
erfreuten 2. Die im Herzen Deutschlands seſshaften Hessen, die Ost-
franken und die oberdeutschen Thüringer haben bezeichnender Weise
in fränkischer Zeit keinerlei geschriebenes Recht aufzuweisen.

Während sich die Mehrzahl der germanischen Stämme gedrungen
fand, das ungeschriebene Recht wenigstens teilweise durch geschriebenes
zu ersetzen, litt die römische Bevölkerung der germanischen Reiche
an der erdrückenden Masse geschriebenen Rechtsstoffes. Die Schriften
der römischen Juristen, die vorhandenen Sammlungen der kaiserlichen
Konstitutionen und die spätrömische Interpretationslitteratur bildeten
ein umfangreiches Quellenmaterial, welches die Rechtspraxis nicht mehr
zu beherrschen vermochte. Es stellte sich daher in den germanischen
Reichen das Bedürfnis ein, die Überfülle des vorhandenen Quellen-
bestandes zu sichten, den überlieferten Stoff zu reduzieren und Rechts-
sammlungen herzustellen, welchen die juristische Fassungskraft der
Romanen noch gewachsen war. Arbeiten dieser Art entstanden im
ostgotischen, im westgotischen und im burgundischen Reiche. Aber
auch das brauchbarste dieser Rechtsbücher, das westgotische Bre-
viarium wurde, da die römische Bevölkerung unter germanischer Herr-
schaft mehr und mehr die geistige Beherrschung ihres geschriebenen
Rechts verlernte, schlieſslich als eine zu schwere Bürde empfunden.
Man hat daher Auszüge aus dem Breviarium verfaſst, welche häufiger
als dieses gebraucht wurden.

Unter den Rechtsquellen der fränkischen Zeit sind die Volks-
rechte, die Kapitularien, die Urkunden und die Formelsammlungen
zu unterscheiden. Den ältesten Grundstock des geschriebenen Rechts
bilden die Volksrechte, welchen die römischen Rechtsbücher der Ger-
manenreiche zur Seite zu stellen sind. Zu ihnen treten die Verord-
nungen und Kapitularien der fränkischen Könige und Hausmeier als
eine jüngere Schicht geschriebenen Rechts hinzu.

Das germanische Urkundenwesen verdankt seine Entstehung der
unmittelbaren Entlehnung aus dem römischen Rechtsleben, ist aber
in seiner Fortbildung selbständige Wege gegangen. Auſserhalb Ita-
liens, des ältesten und reichsten Urkundenlandes, kam das Urkunden-
wesen zuerst in Neustrien und dann in Austrasien zur Entfaltung,
diesseits des Rheins besonders in Schwaben und Baiern, während
Friesland und Sachsen nur geringe Urkundenschätze aufweisen. Um

2 Die neuesten Ausgaben verzeichnen von der Lex Salica mehr als 60, von
der Lex Ribuaria mehr als 30, von der Lex Alamannorum nahezu 50, von der
Lex Baiuwariorum 30 Handschriften, die verschollenen nicht mit gerechnet.
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[284/0302] § 37. Die Entstehung geschriebenen Rechts. rechte sich nachweislich einer groſsen handschriftlichen Verbreitung erfreuten 2. Die im Herzen Deutschlands seſshaften Hessen, die Ost- franken und die oberdeutschen Thüringer haben bezeichnender Weise in fränkischer Zeit keinerlei geschriebenes Recht aufzuweisen. Während sich die Mehrzahl der germanischen Stämme gedrungen fand, das ungeschriebene Recht wenigstens teilweise durch geschriebenes zu ersetzen, litt die römische Bevölkerung der germanischen Reiche an der erdrückenden Masse geschriebenen Rechtsstoffes. Die Schriften der römischen Juristen, die vorhandenen Sammlungen der kaiserlichen Konstitutionen und die spätrömische Interpretationslitteratur bildeten ein umfangreiches Quellenmaterial, welches die Rechtspraxis nicht mehr zu beherrschen vermochte. Es stellte sich daher in den germanischen Reichen das Bedürfnis ein, die Überfülle des vorhandenen Quellen- bestandes zu sichten, den überlieferten Stoff zu reduzieren und Rechts- sammlungen herzustellen, welchen die juristische Fassungskraft der Romanen noch gewachsen war. Arbeiten dieser Art entstanden im ostgotischen, im westgotischen und im burgundischen Reiche. Aber auch das brauchbarste dieser Rechtsbücher, das westgotische Bre- viarium wurde, da die römische Bevölkerung unter germanischer Herr- schaft mehr und mehr die geistige Beherrschung ihres geschriebenen Rechts verlernte, schlieſslich als eine zu schwere Bürde empfunden. Man hat daher Auszüge aus dem Breviarium verfaſst, welche häufiger als dieses gebraucht wurden. Unter den Rechtsquellen der fränkischen Zeit sind die Volks- rechte, die Kapitularien, die Urkunden und die Formelsammlungen zu unterscheiden. Den ältesten Grundstock des geschriebenen Rechts bilden die Volksrechte, welchen die römischen Rechtsbücher der Ger- manenreiche zur Seite zu stellen sind. Zu ihnen treten die Verord- nungen und Kapitularien der fränkischen Könige und Hausmeier als eine jüngere Schicht geschriebenen Rechts hinzu. Das germanische Urkundenwesen verdankt seine Entstehung der unmittelbaren Entlehnung aus dem römischen Rechtsleben, ist aber in seiner Fortbildung selbständige Wege gegangen. Auſserhalb Ita- liens, des ältesten und reichsten Urkundenlandes, kam das Urkunden- wesen zuerst in Neustrien und dann in Austrasien zur Entfaltung, diesseits des Rheins besonders in Schwaben und Baiern, während Friesland und Sachsen nur geringe Urkundenschätze aufweisen. Um 2 Die neuesten Ausgaben verzeichnen von der Lex Salica mehr als 60, von der Lex Ribuaria mehr als 30, von der Lex Alamannorum nahezu 50, von der Lex Baiuwariorum 30 Handschriften, die verschollenen nicht mit gerechnet.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/302>, abgerufen am 18.04.2024.