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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 38. Die Volksrechte.
dass diesem Impulse die Leges der Sachsen, Angeln und Warnen und
der Chamaven ihre Aufzeichnung verdanken. Dagegen ist die damals
in Aussicht genommene Revision der älteren Volksrechte im wesent-
lichen ein unausgeführtes Projekt geblieben 18. Doch hat Karl, und
zwar nicht erst damals sondern schon früher, dafür Sorge getragen,
dass vom Hofe aus bessere und gleichartige Texte zum mindesten
der fränkischen Leges verbreitet wurden 19.

Bei den meisten Stämmen hat der ursprüngliche Text der Lex
im Laufe der Zeit Veränderungen erfahren und Zusätze erhalten.
Nur von den Langobarden und von den Angelsachsen besitzen wir die
Gesetze in der Gestalt, wie sie unter den einzelnen Königen zustande
gekommen waren, indem die Novellen sich als solche kenntlich machen
und die Namen ihrer Urheber nennen. Weit minder durchsichtig ist
die Geschichte der übrigen Volksrechte, denn das Verfahren, durch
welches man das neue Recht mit dem alten in Verbindung brachte,
war ein sehr verschiedenartiges und unmethodisches. Oft hat man
die Novellen, ohne sie als solche zu bezeichnen und ohne die Zeit
oder den Anlass ihrer Abfassung zu nennen, der alten Lex an Stellen,
wo es die Verwandtschaft des Inhalts als passend erscheinen liess,
eingeschoben, nicht selten hat man sie dem vorliegenden Texte des
Volksrechtes, ohne eine neue Kapitelzählung zu beginnen, angehängt.
Nicht bloss neue Satzungen sind auf diese Weise hinzugefügt worden,
sondern auch Aufzeichnungen von Weistümern oder beachtenswerte
Aussprüche der Rechtspraxis. Wenn etwa die neue Satzung die ältere
an Bedeutung sichtlich übertraf, hat man wohl auch die erstere voran-
gestellt und ihr Sätze der letzteren, die man nicht für bedeutungslos
geworden erachtete, nachträglich angehängt, so dass das ältere Recht
nicht den Anfang, sondern den Schluss des Volksrechtes bildet.

Bei den Westgoten hat nachweislich eine mehrmalige offizielle
Redaktion der Lex stattgefunden. Eine Mehrzahl amtlicher Redak-

Pauca quidem numero valde sed utilia, Cunctorumque sui regni leges populorum
Collegit plures inde libros faciens. S. über diese Stellen Eichhorn I 558. 566;
Waitz, VG III 625; Boretius, Die Capitularien im Langobardenreich S 71 ff.;
Ernst Mayer, Zur Entstehung der Lex Rib. S 67.
18 Einhardi Vita Karoli c. 29 in der oben S 259 Anm 7 abgedruckten Stelle.
Die Schlussworte: nihil aliud ab eo factum est, nisi quod pauca capitula et ea
imperfecta legibus addidit, beziehen sich auf das Cap. legibus add. von 803, I 113
und das Cap. zur Lex Rib. von 803, I 117. Boretius a. O. S 76.
19 Auf diese Bemühungen Karls des Gr. ist die Lex Salica emendata (vgl.
Hessels, Lex Sal. praef. S XX und unten S 294 Anm 13) und die überlieferte
Textgestaltung der Lex Rib. zurückzuführen, welche in Handschrift A 5 als Pactus
legis Ribuariorum, qui temporibus Karoli renovatus est, bezeichnet wird.

§ 38. Die Volksrechte.
daſs diesem Impulse die Leges der Sachsen, Angeln und Warnen und
der Chamaven ihre Aufzeichnung verdanken. Dagegen ist die damals
in Aussicht genommene Revision der älteren Volksrechte im wesent-
lichen ein unausgeführtes Projekt geblieben 18. Doch hat Karl, und
zwar nicht erst damals sondern schon früher, dafür Sorge getragen,
daſs vom Hofe aus bessere und gleichartige Texte zum mindesten
der fränkischen Leges verbreitet wurden 19.

Bei den meisten Stämmen hat der ursprüngliche Text der Lex
im Laufe der Zeit Veränderungen erfahren und Zusätze erhalten.
Nur von den Langobarden und von den Angelsachsen besitzen wir die
Gesetze in der Gestalt, wie sie unter den einzelnen Königen zustande
gekommen waren, indem die Novellen sich als solche kenntlich machen
und die Namen ihrer Urheber nennen. Weit minder durchsichtig ist
die Geschichte der übrigen Volksrechte, denn das Verfahren, durch
welches man das neue Recht mit dem alten in Verbindung brachte,
war ein sehr verschiedenartiges und unmethodisches. Oft hat man
die Novellen, ohne sie als solche zu bezeichnen und ohne die Zeit
oder den Anlaſs ihrer Abfassung zu nennen, der alten Lex an Stellen,
wo es die Verwandtschaft des Inhalts als passend erscheinen lieſs,
eingeschoben, nicht selten hat man sie dem vorliegenden Texte des
Volksrechtes, ohne eine neue Kapitelzählung zu beginnen, angehängt.
Nicht bloſs neue Satzungen sind auf diese Weise hinzugefügt worden,
sondern auch Aufzeichnungen von Weistümern oder beachtenswerte
Aussprüche der Rechtspraxis. Wenn etwa die neue Satzung die ältere
an Bedeutung sichtlich übertraf, hat man wohl auch die erstere voran-
gestellt und ihr Sätze der letzteren, die man nicht für bedeutungslos
geworden erachtete, nachträglich angehängt, so daſs das ältere Recht
nicht den Anfang, sondern den Schluſs des Volksrechtes bildet.

Bei den Westgoten hat nachweislich eine mehrmalige offizielle
Redaktion der Lex stattgefunden. Eine Mehrzahl amtlicher Redak-

Pauca quidem numero valde sed utilia, Cunctorumque sui regni leges populorum
Collegit plures inde libros faciens. S. über diese Stellen Eichhorn I 558. 566;
Waitz, VG III 625; Boretius, Die Capitularien im Langobardenreich S 71 ff.;
Ernst Mayer, Zur Entstehung der Lex Rib. S 67.
18 Einhardi Vita Karoli c. 29 in der oben S 259 Anm 7 abgedruckten Stelle.
Die Schluſsworte: nihil aliud ab eo factum est, nisi quod pauca capitula et ea
imperfecta legibus addidit, beziehen sich auf das Cap. legibus add. von 803, I 113
und das Cap. zur Lex Rib. von 803, I 117. Boretius a. O. S 76.
19 Auf diese Bemühungen Karls des Gr. ist die Lex Salica emendata (vgl.
Hessels, Lex Sal. praef. S XX und unten S 294 Anm 13) und die überlieferte
Textgestaltung der Lex Rib. zurückzuführen, welche in Handschrift A 5 als Pactus
legis Ribuariorum, qui temporibus Karoli renovatus est, bezeichnet wird.
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[290/0308] § 38. Die Volksrechte. daſs diesem Impulse die Leges der Sachsen, Angeln und Warnen und der Chamaven ihre Aufzeichnung verdanken. Dagegen ist die damals in Aussicht genommene Revision der älteren Volksrechte im wesent- lichen ein unausgeführtes Projekt geblieben 18. Doch hat Karl, und zwar nicht erst damals sondern schon früher, dafür Sorge getragen, daſs vom Hofe aus bessere und gleichartige Texte zum mindesten der fränkischen Leges verbreitet wurden 19. Bei den meisten Stämmen hat der ursprüngliche Text der Lex im Laufe der Zeit Veränderungen erfahren und Zusätze erhalten. Nur von den Langobarden und von den Angelsachsen besitzen wir die Gesetze in der Gestalt, wie sie unter den einzelnen Königen zustande gekommen waren, indem die Novellen sich als solche kenntlich machen und die Namen ihrer Urheber nennen. Weit minder durchsichtig ist die Geschichte der übrigen Volksrechte, denn das Verfahren, durch welches man das neue Recht mit dem alten in Verbindung brachte, war ein sehr verschiedenartiges und unmethodisches. Oft hat man die Novellen, ohne sie als solche zu bezeichnen und ohne die Zeit oder den Anlaſs ihrer Abfassung zu nennen, der alten Lex an Stellen, wo es die Verwandtschaft des Inhalts als passend erscheinen lieſs, eingeschoben, nicht selten hat man sie dem vorliegenden Texte des Volksrechtes, ohne eine neue Kapitelzählung zu beginnen, angehängt. Nicht bloſs neue Satzungen sind auf diese Weise hinzugefügt worden, sondern auch Aufzeichnungen von Weistümern oder beachtenswerte Aussprüche der Rechtspraxis. Wenn etwa die neue Satzung die ältere an Bedeutung sichtlich übertraf, hat man wohl auch die erstere voran- gestellt und ihr Sätze der letzteren, die man nicht für bedeutungslos geworden erachtete, nachträglich angehängt, so daſs das ältere Recht nicht den Anfang, sondern den Schluſs des Volksrechtes bildet. Bei den Westgoten hat nachweislich eine mehrmalige offizielle Redaktion der Lex stattgefunden. Eine Mehrzahl amtlicher Redak- 17 18 Einhardi Vita Karoli c. 29 in der oben S 259 Anm 7 abgedruckten Stelle. Die Schluſsworte: nihil aliud ab eo factum est, nisi quod pauca capitula et ea imperfecta legibus addidit, beziehen sich auf das Cap. legibus add. von 803, I 113 und das Cap. zur Lex Rib. von 803, I 117. Boretius a. O. S 76. 19 Auf diese Bemühungen Karls des Gr. ist die Lex Salica emendata (vgl. Hessels, Lex Sal. praef. S XX und unten S 294 Anm 13) und die überlieferte Textgestaltung der Lex Rib. zurückzuführen, welche in Handschrift A 5 als Pactus legis Ribuariorum, qui temporibus Karoli renovatus est, bezeichnet wird. 17 Pauca quidem numero valde sed utilia, Cunctorumque sui regni leges populorum Collegit plures inde libros faciens. S. über diese Stellen Eichhorn I 558. 566; Waitz, VG III 625; Boretius, Die Capitularien im Langobardenreich S 71 ff.; Ernst Mayer, Zur Entstehung der Lex Rib. S 67.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/308>, abgerufen am 28.03.2024.