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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 54. Königsrecht und Kapitularien.
unter seiner Herrschaft vereinigten Stämmen. Bei den römischen
Unterthanen war er zwar in die absolute Gesetzgebungsgewalt ein-
getreten; allein das fränkische Königtum hielt sich im allgemeinen
fern von legislativen Eingriffen in das römische Privatrecht und be-
handelte dieses mit jener scheuen Hochachtung, die man vor Dingen
zu haben pflegt, die man nicht übersehen kann1. Bei den germa-
nischen Stämmen hatte sich die Ausbildung des Königsrechtes mit der
im Volksbewusstsein eingewurzelten Überzeugung abzufinden, dass
Volksrecht nur durch das Volk und nicht einseitig vom König ge-
schaffen werden könne. Hier war der springende Punkt in der Ge-
schichte des Königsrechtes das Verhältnis des Königs zu den Organen
der Rechtsprechung. Wo diese vom Königtum unabhängig waren,
reichte die Macht des Königs nicht aus, um zu bestimmen, was in den
Gerichten Rechtens sein solle. Nur daraus lässt es sich erklären, dass
bei den Franken der Unterschied zwischen Königsrecht und Volks-
recht bis zum Ausgang der karolingischen Periode lebendig blieb. Wo
dagegen die Rechtsprechung dem richterlichen Beamtentum anheimfiel
und die aktive Teilnahme der Gerichtsgemeinden verschwunden war,
wie dies bei den Langobarden geschah, vermochte der König
Änderungen des Volksrechtes ohne Zustimmung des Volkes durch-
zuführen.

Während bei den Nordgermanen, namentlich bei den Schweden,
ein Königsrecht sich verhältnismässig spät entwickelte, beginnt im
fränkischen Reiche der König schon sehr früh in die Rechtsbildung
einzugreifen. Sein Anteil an der Erzeugung neuen Rechtes reicht so
weit, wie sein Einfluss auf die Handhabung des Rechtes. Er schafft
Recht, einseitig oder doch nur unter Mitwirkung des auf den Reichs-
tagen vertretenen Beamtentums, so weit er mit Hilfe des Beamten-
tums das neue Recht durchzusetzen in der Lage ist, also namentlich
im Gebiete der Verwaltungssachen. Vermag er die Rechtsprechung
nicht einseitig zu binden, so kann doch andrerseits die Satzung neuen
Volksrechtes nicht ohne seine Mitwirkung vor sich gehen, seit der
Mallus unter dem Vorsitz des königlichen Grafen oder seines Ver-
treters tagt und das Urteil in dem Rechtsgebot der königlichen Be-
amten seine Ergänzung finden muss. Geht die Satzung vom König

1 In dem Edictum Pistense v. J. 864 c. 20 sagt Karl der Kahle: super
illam (Romanam) legem vel contra ipsam legem nec antecessores nostri quodcunque
capitulum statuerunt nec nos aliquid constituimus. In der Responsa misso cuidam
data Cap. I 145, c. 2 antwortet der König auf eine Anfrage über die Urkundungs-
gebühren der Gerichtspersonen: lege Romanam legem et sicut ibi inveneris exinde
facias.

§ 54. Königsrecht und Kapitularien.
unter seiner Herrschaft vereinigten Stämmen. Bei den römischen
Unterthanen war er zwar in die absolute Gesetzgebungsgewalt ein-
getreten; allein das fränkische Königtum hielt sich im allgemeinen
fern von legislativen Eingriffen in das römische Privatrecht und be-
handelte dieses mit jener scheuen Hochachtung, die man vor Dingen
zu haben pflegt, die man nicht übersehen kann1. Bei den germa-
nischen Stämmen hatte sich die Ausbildung des Königsrechtes mit der
im Volksbewuſstsein eingewurzelten Überzeugung abzufinden, daſs
Volksrecht nur durch das Volk und nicht einseitig vom König ge-
schaffen werden könne. Hier war der springende Punkt in der Ge-
schichte des Königsrechtes das Verhältnis des Königs zu den Organen
der Rechtsprechung. Wo diese vom Königtum unabhängig waren,
reichte die Macht des Königs nicht aus, um zu bestimmen, was in den
Gerichten Rechtens sein solle. Nur daraus läſst es sich erklären, daſs
bei den Franken der Unterschied zwischen Königsrecht und Volks-
recht bis zum Ausgang der karolingischen Periode lebendig blieb. Wo
dagegen die Rechtsprechung dem richterlichen Beamtentum anheimfiel
und die aktive Teilnahme der Gerichtsgemeinden verschwunden war,
wie dies bei den Langobarden geschah, vermochte der König
Änderungen des Volksrechtes ohne Zustimmung des Volkes durch-
zuführen.

Während bei den Nordgermanen, namentlich bei den Schweden,
ein Königsrecht sich verhältnismäſsig spät entwickelte, beginnt im
fränkischen Reiche der König schon sehr früh in die Rechtsbildung
einzugreifen. Sein Anteil an der Erzeugung neuen Rechtes reicht so
weit, wie sein Einfluſs auf die Handhabung des Rechtes. Er schafft
Recht, einseitig oder doch nur unter Mitwirkung des auf den Reichs-
tagen vertretenen Beamtentums, so weit er mit Hilfe des Beamten-
tums das neue Recht durchzusetzen in der Lage ist, also namentlich
im Gebiete der Verwaltungssachen. Vermag er die Rechtsprechung
nicht einseitig zu binden, so kann doch andrerseits die Satzung neuen
Volksrechtes nicht ohne seine Mitwirkung vor sich gehen, seit der
Mallus unter dem Vorsitz des königlichen Grafen oder seines Ver-
treters tagt und das Urteil in dem Rechtsgebot der königlichen Be-
amten seine Ergänzung finden muſs. Geht die Satzung vom König

1 In dem Edictum Pistense v. J. 864 c. 20 sagt Karl der Kahle: super
illam (Romanam) legem vel contra ipsam legem nec antecessores nostri quodcunque
capitulum statuerunt nec nos aliquid constituimus. In der Responsa misso cuidam
data Cap. I 145, c. 2 antwortet der König auf eine Anfrage über die Urkundungs-
gebühren der Gerichtspersonen: lege Romanam legem et sicut ibi inveneris exinde
facias.
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[375/0393] § 54. Königsrecht und Kapitularien. unter seiner Herrschaft vereinigten Stämmen. Bei den römischen Unterthanen war er zwar in die absolute Gesetzgebungsgewalt ein- getreten; allein das fränkische Königtum hielt sich im allgemeinen fern von legislativen Eingriffen in das römische Privatrecht und be- handelte dieses mit jener scheuen Hochachtung, die man vor Dingen zu haben pflegt, die man nicht übersehen kann 1. Bei den germa- nischen Stämmen hatte sich die Ausbildung des Königsrechtes mit der im Volksbewuſstsein eingewurzelten Überzeugung abzufinden, daſs Volksrecht nur durch das Volk und nicht einseitig vom König ge- schaffen werden könne. Hier war der springende Punkt in der Ge- schichte des Königsrechtes das Verhältnis des Königs zu den Organen der Rechtsprechung. Wo diese vom Königtum unabhängig waren, reichte die Macht des Königs nicht aus, um zu bestimmen, was in den Gerichten Rechtens sein solle. Nur daraus läſst es sich erklären, daſs bei den Franken der Unterschied zwischen Königsrecht und Volks- recht bis zum Ausgang der karolingischen Periode lebendig blieb. Wo dagegen die Rechtsprechung dem richterlichen Beamtentum anheimfiel und die aktive Teilnahme der Gerichtsgemeinden verschwunden war, wie dies bei den Langobarden geschah, vermochte der König Änderungen des Volksrechtes ohne Zustimmung des Volkes durch- zuführen. Während bei den Nordgermanen, namentlich bei den Schweden, ein Königsrecht sich verhältnismäſsig spät entwickelte, beginnt im fränkischen Reiche der König schon sehr früh in die Rechtsbildung einzugreifen. Sein Anteil an der Erzeugung neuen Rechtes reicht so weit, wie sein Einfluſs auf die Handhabung des Rechtes. Er schafft Recht, einseitig oder doch nur unter Mitwirkung des auf den Reichs- tagen vertretenen Beamtentums, so weit er mit Hilfe des Beamten- tums das neue Recht durchzusetzen in der Lage ist, also namentlich im Gebiete der Verwaltungssachen. Vermag er die Rechtsprechung nicht einseitig zu binden, so kann doch andrerseits die Satzung neuen Volksrechtes nicht ohne seine Mitwirkung vor sich gehen, seit der Mallus unter dem Vorsitz des königlichen Grafen oder seines Ver- treters tagt und das Urteil in dem Rechtsgebot der königlichen Be- amten seine Ergänzung finden muſs. Geht die Satzung vom König 1 In dem Edictum Pistense v. J. 864 c. 20 sagt Karl der Kahle: super illam (Romanam) legem vel contra ipsam legem nec antecessores nostri quodcunque capitulum statuerunt nec nos aliquid constituimus. In der Responsa misso cuidam data Cap. I 145, c. 2 antwortet der König auf eine Anfrage über die Urkundungs- gebühren der Gerichtspersonen: lege Romanam legem et sicut ibi inveneris exinde facias.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/393>, abgerufen am 29.03.2024.