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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 8. Das Auftreten der deutschen Stämme.
darbieten, erfährt seit dem dritten Jahrhundert eine wesentliche Verein-
fachung. Die zahlreichen Völkerschaften beginnen allmählich zu ver-
blassen und zu verschwinden und neue Namen von umfassenderer Bedeu-
tung treten an ihre Stelle. Es sind die Namen der grossen Stämme, in
welche das deutsche Volk, soweit seine nationale Überlieferung zurück-
reicht, ethnographisch und lange Zeit hindurch auch politisch zerfiel.
Der Kristallisationsprozess hat sich bei den verschiedenen Stämmen
zu verschiedenen Zeiten vollzogen. Erst zu Anfang des sechsten Jahr-
hunderts liegt uns die vollständige Stammeskarte in quellenmässiger
Begründung vor Augen. Allein der Beginn der Entwicklung geht
wahrscheinlich auf Verschiebungen zurück, welche um die Zeit des
Markomannenkriegs unter den Völkerschaften zwischen Weichsel und
Elbe stattgefunden haben.

Von den neuen Stammesnamen wird am frühesten der der Ala-
mannen
genannt1. Es müssen suebische Völkerschaften gewesen sein,
die sich als Alamannen vereinigt haben. Die Namen Schwaben und
Alamannen werden in der Folge als gleichbedeutend gebraucht; nur
der erstere hat sich im Volksmunde erhalten, während der letztere
im Munde der Franzosen zum Namen aller Deutschen geworden ist.
Näher lässt sich die Abstammung der Alamannen nicht mit Sicherheit
bestimmen. Die Sondernamen, mit welchen einzelne Zweige der Ala-
mannen gelegentlich genannt werden, geben darüber keinen Aufschluss.
Von den Völkerschaften, die schon früher in den Rhein- und Main-
gegenden sassen, mögen die Tenkterer, Usiper und Tubanten2 sich
dem Bunde angegliedert haben und in ihm aufgegangen sein. Allein
die bindende und treibende Kraft desselben ist wohl von Osten ge-
kommen. Höchst wahrscheinlich ist sie in dem mächtigen Volke der
Semnonen zu suchen, welches vielleicht schon um die Zeit des Marko-
mannenkriegs sich von der mittleren Elbe gegen Südwesten vorzu-
schieben begann3. Im Jahre 213, zu welchem die Alamannen zuerst

1 Der Name deutet auf eine Bundesgemeinschaft. Asinius Quadratus nennt
sie (Agathias I 6) xugkludes anthropoi kai migades.
2 Zeuss S 305. Grimm lässt sie Gesch. d. DSpr S 374. 412 zu Franken
werden.
3 Wenn die weiter nordwestlich sesshaften Langobarden von der Bewegung
ergriffen wurden, so dass ein Schwarm derselben in Pannonien erschien, liegt die
Vermutung nahe, dass auch die Semnonen nicht in Ruhe blieben. Die Nachricht
des Dio Cassius über die Quaden, die in ihrer Bedrängnis zu den Semnonen aus-
wandern wollten, möchte ich nicht mit Baumann a. O. S 223 dahin verstehen,
dass sie die leergebliebenen Sitze der bereits abgezogenen Semnonen besiedeln,
sondern so, dass sie sich dem Zuge der Semnonen anschliessen wollten. Wenig
glaubhaft ist, dass die Semnonen bei dem damaligen Völkergedränge in ihren alten

§ 8. Das Auftreten der deutschen Stämme.
darbieten, erfährt seit dem dritten Jahrhundert eine wesentliche Verein-
fachung. Die zahlreichen Völkerschaften beginnen allmählich zu ver-
blassen und zu verschwinden und neue Namen von umfassenderer Bedeu-
tung treten an ihre Stelle. Es sind die Namen der groſsen Stämme, in
welche das deutsche Volk, soweit seine nationale Überlieferung zurück-
reicht, ethnographisch und lange Zeit hindurch auch politisch zerfiel.
Der Kristallisationsprozeſs hat sich bei den verschiedenen Stämmen
zu verschiedenen Zeiten vollzogen. Erst zu Anfang des sechsten Jahr-
hunderts liegt uns die vollständige Stammeskarte in quellenmäſsiger
Begründung vor Augen. Allein der Beginn der Entwicklung geht
wahrscheinlich auf Verschiebungen zurück, welche um die Zeit des
Markomannenkriegs unter den Völkerschaften zwischen Weichsel und
Elbe stattgefunden haben.

Von den neuen Stammesnamen wird am frühesten der der Ala-
mannen
genannt1. Es müssen suebische Völkerschaften gewesen sein,
die sich als Alamannen vereinigt haben. Die Namen Schwaben und
Alamannen werden in der Folge als gleichbedeutend gebraucht; nur
der erstere hat sich im Volksmunde erhalten, während der letztere
im Munde der Franzosen zum Namen aller Deutschen geworden ist.
Näher läſst sich die Abstammung der Alamannen nicht mit Sicherheit
bestimmen. Die Sondernamen, mit welchen einzelne Zweige der Ala-
mannen gelegentlich genannt werden, geben darüber keinen Aufschluſs.
Von den Völkerschaften, die schon früher in den Rhein- und Main-
gegenden saſsen, mögen die Tenkterer, Usiper und Tubanten2 sich
dem Bunde angegliedert haben und in ihm aufgegangen sein. Allein
die bindende und treibende Kraft desselben ist wohl von Osten ge-
kommen. Höchst wahrscheinlich ist sie in dem mächtigen Volke der
Semnonen zu suchen, welches vielleicht schon um die Zeit des Marko-
mannenkriegs sich von der mittleren Elbe gegen Südwesten vorzu-
schieben begann3. Im Jahre 213, zu welchem die Alamannen zuerst

1 Der Name deutet auf eine Bundesgemeinschaft. Asinius Quadratus nennt
sie (Agathias I 6) ξύγκλυδες ἄνϑϱωποι καὶ μιγάδες.
2 Zeuſs S 305. Grimm läſst sie Gesch. d. DSpr S 374. 412 zu Franken
werden.
3 Wenn die weiter nordwestlich seſshaften Langobarden von der Bewegung
ergriffen wurden, so daſs ein Schwarm derselben in Pannonien erschien, liegt die
Vermutung nahe, daſs auch die Semnonen nicht in Ruhe blieben. Die Nachricht
des Dio Cassius über die Quaden, die in ihrer Bedrängnis zu den Semnonen aus-
wandern wollten, möchte ich nicht mit Baumann a. O. S 223 dahin verstehen,
daſs sie die leergebliebenen Sitze der bereits abgezogenen Semnonen besiedeln,
sondern so, daſs sie sich dem Zuge der Semnonen anschlieſsen wollten. Wenig
glaubhaft ist, daſs die Semnonen bei dem damaligen Völkergedränge in ihren alten
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[41/0059] § 8. Das Auftreten der deutschen Stämme. darbieten, erfährt seit dem dritten Jahrhundert eine wesentliche Verein- fachung. Die zahlreichen Völkerschaften beginnen allmählich zu ver- blassen und zu verschwinden und neue Namen von umfassenderer Bedeu- tung treten an ihre Stelle. Es sind die Namen der groſsen Stämme, in welche das deutsche Volk, soweit seine nationale Überlieferung zurück- reicht, ethnographisch und lange Zeit hindurch auch politisch zerfiel. Der Kristallisationsprozeſs hat sich bei den verschiedenen Stämmen zu verschiedenen Zeiten vollzogen. Erst zu Anfang des sechsten Jahr- hunderts liegt uns die vollständige Stammeskarte in quellenmäſsiger Begründung vor Augen. Allein der Beginn der Entwicklung geht wahrscheinlich auf Verschiebungen zurück, welche um die Zeit des Markomannenkriegs unter den Völkerschaften zwischen Weichsel und Elbe stattgefunden haben. Von den neuen Stammesnamen wird am frühesten der der Ala- mannen genannt 1. Es müssen suebische Völkerschaften gewesen sein, die sich als Alamannen vereinigt haben. Die Namen Schwaben und Alamannen werden in der Folge als gleichbedeutend gebraucht; nur der erstere hat sich im Volksmunde erhalten, während der letztere im Munde der Franzosen zum Namen aller Deutschen geworden ist. Näher läſst sich die Abstammung der Alamannen nicht mit Sicherheit bestimmen. Die Sondernamen, mit welchen einzelne Zweige der Ala- mannen gelegentlich genannt werden, geben darüber keinen Aufschluſs. Von den Völkerschaften, die schon früher in den Rhein- und Main- gegenden saſsen, mögen die Tenkterer, Usiper und Tubanten 2 sich dem Bunde angegliedert haben und in ihm aufgegangen sein. Allein die bindende und treibende Kraft desselben ist wohl von Osten ge- kommen. Höchst wahrscheinlich ist sie in dem mächtigen Volke der Semnonen zu suchen, welches vielleicht schon um die Zeit des Marko- mannenkriegs sich von der mittleren Elbe gegen Südwesten vorzu- schieben begann 3. Im Jahre 213, zu welchem die Alamannen zuerst 1 Der Name deutet auf eine Bundesgemeinschaft. Asinius Quadratus nennt sie (Agathias I 6) ξύγκλυδες ἄνϑϱωποι καὶ μιγάδες. 2 Zeuſs S 305. Grimm läſst sie Gesch. d. DSpr S 374. 412 zu Franken werden. 3 Wenn die weiter nordwestlich seſshaften Langobarden von der Bewegung ergriffen wurden, so daſs ein Schwarm derselben in Pannonien erschien, liegt die Vermutung nahe, daſs auch die Semnonen nicht in Ruhe blieben. Die Nachricht des Dio Cassius über die Quaden, die in ihrer Bedrängnis zu den Semnonen aus- wandern wollten, möchte ich nicht mit Baumann a. O. S 223 dahin verstehen, daſs sie die leergebliebenen Sitze der bereits abgezogenen Semnonen besiedeln, sondern so, daſs sie sich dem Zuge der Semnonen anschlieſsen wollten. Wenig glaubhaft ist, daſs die Semnonen bei dem damaligen Völkergedränge in ihren alten

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/59>, abgerufen am 28.03.2024.